Möglicherweise handelt es sich wie bei Friedrich Kittlers Musik und Mathematik um eine Diagnose der altgriechischen Kultur - wohlgemerkt mit einer bestimmten philosophischen Perspektive. Zunächst einmal zeigt die Vorlesung, daß sich Foucault schon um 1970 und nicht erst mit seiner späteren "Wende" nach 1980 intensiv auf die Antike eingelassen hat.
Der erste Satz der Metaphysik spricht vom natürlichen Streben aller Menschen nach Wissen. Der zweite Satz führt als Hinweis darauf die Tatsache an, daß die Menschen die Wahrnehmungen lieben, und zwar über ihre Nützlichkeitsfunktion hinaus; sie lieben sie um ihrer selber willen (und am meisten die Augen-Wahrnehmung). Es ist also die Rede von zwei verschiedenen Optionen: Streben und Lieben (Gernhaben). Das erste bezieht sich eher auf Gegenstände, die man (noch) nicht hat, das zweite, das häufig mit "Freude" oder "Vergnügen" wiedergegeben wird, bezieht sich auf etwas, was schon da ist.
Es ist auffällig, daß Aristoteles im zweiten Satz nicht das bei ihm übliche Wort hedone verwendet, sondern das seltene agapan. Es ist das dritte und blasseste Wort für das Lieben: weder die erotische Liebe (eros) noch die fast schon politische Freundesliebe (philia) - aber immerhin ein Wort für Lieben. Aristoteles versieht also sowohl das Wissen (im Griechischen: gesehen haben) wie das mit den Sinneswahrnehmungen sich vollziehende Erkennen mit antriebsdynamischen Vorzeichen und dennoch meint Foucault, daß er mit dem natürlichen, allgemein-menschlichen Streben und Lieben das tatsächliche Wissen-Wollen, das kontingent immer mit einem bestimmten Nicht-Wissen-Wollen (so in den Tragödien!) konfrontiert ist und entweder als solches oder als solches Wissen-Wollen auftritt - eskamotiert und sich insofern in eine Reihe mit Platon, Spinoza, Kant stellt, wogegen Foucault mit Nietzsche eine Reihe zur Erforschung bestimmter historischer Wissen-Wollen bilden will.
Wir werden wohl gut daran tun, parallel zum "Lesen in der Metaphysik" die Erörterungen von Foucault im Auge zu behalten. Aber zunächst müssen wir schauen, daß wir uns den Duktus des Textes klar machen, den wir lesen. Und da sieht es so aus, daß Aristoteles ziemlich langsam, umständlich, auf dem Weg der Darlegung aufsteigender Erkenntnis- und Wissensstufen, eine bestimmte Wissenschaft "sucht", die er als die höchste etablieren will, weshalb er ihr sogar den Ehrentitel "Weisheit" verleiht - eigentich gegen die sokratische Bescheidenheit, denn Sokrates hatte sich gegenüber den Sophisten als angeblichen Weisheitslehrern (-verkäufern) als "Philosophen", also Weisheitsliebenden bezeichne.
Die gesuchte Wissenschaft sollte zu den theoretischen Wissenschaften gehören, deren Wissen aufs Allgemeine und auf die ersten Ursachen geht. Nicht zu den poietischen Wissenschaften, die Aristoteles zweimal erwähnt, weil er in seiner Darlegung der Wissensstufen auf die Künste, konkret auf die Heilkunst, eingegangen ist. Noch in 982b 12 scheint er anzunehmen, seine Hörer oder Leser würden wohl vermuten, die neue Wissenschaft würde zu den poietischen Wissenschaften gehören. Nein, sie gehört zu den theoretischen, welche weiser, also wissender sind.
Er nennt eine theoretische Wissenschaft, die Mathematik, mit ihren beiden Zweigen, Geometrie und Arithmetik, von denen die Arithmetik die höhere sei, weil sie weniger Ursachen oder Elemente enthalte. Insofern müßte die gesuchte Wissenschaft nach den poietischen Wissenschaften, der Geometrie, der Arithemetik ihren Platz haben. Sie müßte noch weniger Elemente enthalten als die Arithmetik, wohl aber müßte sie eine Ursache enthalten, die in der Mathematik keinen Platz hat, eher schon in den poietischen Wissenschaften, in denen geht es nämlich um die spezifischen Güter oder Zwecke der verschiedenen Herstellungen. Die gesuchte Wissenschaft müßte das "Beste" als eine der Ursachen betrachten.
Was soll das für eine Wissenschaft sein?
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