Unsere Lektüre des Buches I der Metaphysik geht zwar langsam vor sich: sie kann aber keineswegs dem Text in allen Dimensionen gerecht werden. Vor allem können wir nicht vollständig klarstellen, inwieweit Aristoteles’ Referieren und Kritisieren der „voraristotelischen“ Theoretiker dem heutigen Wissen von diesen Theoretikern entspricht. Das gilt insbesondere für diejenigen Autoren, die uns bis heute nicht wirklich vollständig und schlüssig überliefert, bekannt und verständlich sind – etwa für die Pythagoräer.
Immerhin möchten wir uns zwei Aspekte klarmachen. Erstens die bloße Tatsache, daß Aristoteles seine Suche nach seiner „gesuchten Wissenschaft“ mit relativ ausführlichen, auch immer wieder abgebrochenen und dann wieder neu ansetzenden theoriegeschichtlichen Referaten einleitet. Wieso braucht diese Wissenschafts-Suche so eine „historische“ Einleitung? Wird hier eine völlig „neue“ Wissenschaft gesucht? Dafür spricht einiges, einiges aber auch dagegen. Wir haben ja schon gesehen, daß Aristoteles die gesuchte Wissenschaft von den rein „naturkundlich“ arbeitenden Vorgängern, aber auch von seiner eigenen Vorlesung „Über die Natur“ absetzt – obwohl er auch Bezüge darauf einräumt. Und außerdem wollen wir schauen, ob Aristoteles im Zuge dieser kritischen Berichte auch eigene theoretische Positionen offenlegt: solche, die mit seiner „bekannten“ Lehre übereinstimmen, vielleicht aber auch andere.
Den Anfang des 9. Kapitels haben wir schon gelesen, in dem Aristoteles die Platoniker kritisiert – obwohl er im weiteren Sinn wohl selber einer ist. In der Folge kritisiert er die Art und Weise, in der sie die Existenz von Formen, genauer gesagt von „Ansichten“ oder „Arten“ beweisen. Gibt es Formen von Negationen, von vergänglichen oder schon vergangenen Dingen: von allen Dingen, von denen es Wissenschaften, Begriffe, Vorstellungen gibt? Also auch von der Bezüglichkeit und somit von den Akzidenzien – und nicht nur von den Substanzen? Eine solche Position läuft einerseits darauf hinaus, möglichst viele „Ideen zu schaffen“ – und andererseits die Dinge oder Entitäten, deren „Sein wir mehr wollen“ geradezu „abzuschaffen“. Aristoteles versteigt sich hier zu einer voluntaristischen und konstruktivistischen Sprache über Theorien, wobei er für sich selber einen Voluntarismus in Anspruch nimmt – einen „Willen zum Sein“ von bestimmten Dingen, den Gegnern jedoch, nämlich den übermäßig platonisierenden Theoretikern, eine „Produktion“ unterstellt, welche die „Destruktion“ der von ihm bevorzugten Dinge zur Folge hat.
Wenn es sich hier tatsächlich um einen Ausdruck der aristotelischen Position handelt, dann ist sie vor allem aufgrund ihrer Formulierung interessant, die die eigene theoretische Position als Willenshaltung oder Willensentscheidung darstellt und die entgegengesetzte als wirkungsmächtiges Handeln: Theorie als Entscheidung, Theorie als Macht über die Gegenstände. Inhaltlich aber stellt sich Aristoteles auf die Seite des Realismus, auf die Seite der hiesigen Dinge, während er der Gegenseite ein haltloses Erfinden und Vermehren, ein endloses Hervorbringen und Vermehren von sogenannten Ideen unterstellt, womit die real existierenden Dinge zurückgedrängt, vielleicht sogar verdrängt und vernichtet werden.
Im folgenden Absatz wird die Annahme, daß es nicht nur von Wesen, also Substanzen, sondern auch von allen anderen – Aristoteles setzt da wieder einmal kein Substantiv ein, sondern einfach den neutralen Plural der anderen und der noch andereren, logischerweise müssen das die Akzidenzien oder vielleicht noch weniger seiende x oder y sein, z. B. die Vergangenheiten oder andere Verneinungen (das Akzidens und die Tausende werden ausdrücklich genannt), daß es also von allem Möglichen bis hin zum Unmöglichen auch Ideen gibt, ausdrücklich wiederholt und verworfen. Zuletzt unterstreicht Aristoteles den Grundsatz, daß es notwendigerweise nur von Substanzen Ideen geben könne. Der dem indirekt entgegengesetzte Satz, daß es nicht nur von Substanzen sondern auch von Akzidenzien Wissenschaften geben könne, wird den Platonikern zugeschrieben und somit abgelehnt. Diese Ablehnung ist ein offizieller Lehrsatz des Aristoteles. Es ist aber nicht sicher, daß er sich tatsächlich konsequent an ihn gehalten hat.
Walter Seitter
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