Das Buch I der sogenannten Metaphysik bringt zunächste einige epistemologische Überlegungen, die eine mehr oder weniger neue, jedenfalls eine „gesuchte“ Wissenschaft in Aussicht stellen, sodann historisch-kritische Ausführungen zu Theorien, die als unvollkommene Vorläufer einer nun in Angriff zu nehmenden Wissenschaft gelten sollen; auf den letzten zwei Seiten wird wiederum diese näher ins Auge gefaßt und erstmals bekommt sie die Bezeichnung „erste Philosophie“.
Es sei nun dahingestellt, ob die historisch-kritischen Ausführungen uns mehr Informationen über die älteren Theoretiker oder über die aristotelische Betrachtungsweise bzw. die aristotelischen Positionen liefern. Herausgreifen möchte ich einen Punkt, den ich schon am 29. März bemerkt habe und der für eine größere Eigentümlichkeit der griechischen Philosophie steht.
Dieser Punkt sieht so aus, daß Aristoteles in seiner zweiten Auseinandersetzung mit der Lehre Platons, im Kapitel 9, die Idee des Menschen mit einem Ausdruck bezeichnet, der nicht dem gemeinen Sprachgebrauch entspricht, sondern einen Neologismus darstellt, dessen Bildung allerdings doch nicht ganz ungewöhnlich ist. Eine Wortbildung, die so zustandekommt, daß man einem Substantiv das Präfix „auto“ voranstellt, was die Bedeutung dieses Substantivs eher steigert, und zwar in Richtung Echtheit. Beispiel: autopais = leiblicher Sohn. Der von Aristoteles gebildete Ausdruck lautet autoanthropos und würde nach dem üblichen Schema so etwas bedeuten wie echter, leibhaftiger Mensch. In der Übersetzung von Franz F. Schwarz heißt es „Mensch an sich“ – eine gewissermaßen kantische Übersetzung, sofern Kant das „Ding an sich“ erfunden hat. In unserem Text kommt der Ausdruck zweimal vor – 991a 29, 991b 19. Beide Male ergibt der Kontext, daß die platonische Idee des Menschen gemeint ist, die deutsche bzw. kantische Übersetzung nicht unrichtig erscheint.
Meinem momentanen Wissensstand zufolge gibt es bei Platon diese Wortbildung nicht und das heißt, daß Aristoteles hier für eine philosophische Erfindung seines Lehrers, und zwar für seine berühmteste Erfindung, nämlich die „Idee“, eine terminologische Ausdrucksweise nachgeliefert hat, die das Wort „Idee“ vermeidet, und stattdessen für die Idee eines jeden Wesens die Bezeichnung für das Wesen mit dem vorangestellten auto vorschlägt: autoanthropos heißt dann allerdings nicht „leibhaftiger Mensch“ wohl aber „echter Mensch“ im Sinne von „eigentlicher Mensch“, „wahrhafter Mensch“ oder „Urmensch“ – im platonischen Sinn. Der aristotelische Ausdruck stellt dieser Wortzusammensetzung noch ein anderes „Präfix“ voran, um seine naheliegende Bedeutung „leibhaftig“ von vorherein auszuschalten. Und das ist der bestimmte Artikel des dritten Geschlechts: to – so in 991a 29. Daher muß man wörtlich übersetzen: das Selbstmensch, das Eigentlich-Mensch oder das Mensch an sich. Mit diesem „das“ wird „Mensch“ eindeutig in eine andere Sphäre gehoben, eben in die Sphäre und in die Seinsart der platonischen Ideen. Wieso ausgerechnet Aristoteles das tut, und zwar in einem Text, der die platonische Ideenlehre skeptisch bis kritisch, ja polemisch bis ironisch behandelt, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen.
Die aristotelische Platonisierung mithilfe des „das“ ist allerdings nur ein Sonderfall für den Einsatz des „das“ – ein wie es scheint später, aber auch extremer. Ein später, denn dieser Text dürfte gegen Ende des 4. Jahrhunderts vor Christus entstanden sein. Meine These nun geht dahin, daß dieser bestimmte Artikel des dritten Geschlechts einer der Hauptfaktoren für die Erfindung der Philosophie gewesen ist, die sich ungefähr seit dem frühen 5. Jahrhundert zugetragen hat. Die Bildung von Neu-Substantiven mit dem Artikel „das“ war ein wichtiger sprachlicher Kunstgriff oder Trick, um einerseits alte und bekannte Wörter zu verwenden und andererseits durch die neue Wortform eine halb-neue, eine zwar verständliche, aber doch auch seltsame Redeweise zu schaffen. Dieser Sprach-Trick war nur möglich, weil das Griechische die auch uns bekannten drei grammatischen Geschlechter hatte und zwar mit den Artikeln (im Unterschied zum Lateinischen). Die Substantivierung mit dem Artikel to wurde zunächst vor allem an Adjektiven vollzogen: das Unendliche, das Trockene, das Gemeinsame (Pythagoras, Empedokles, Heraklit ...). Die Substantivierung von Adjektiven ist die naheliegendste, denn die Adjektive sind von den Substantiven nicht so weit entfernt. Übrigens lassen sich Adjektive auch mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht plausibel substantivieren: der Mächtige oder der Gütige oder die Schöne sind ebenfalls verständliche Wortbildungen.
Doch die Philosophie ist entstanden, indem die beiden sexuierten (sexuellen) Genera zurückgestellt, beiseitegedrängt wurden (die wurden den Dichtern überlassen) und das asexuelle dritte Genus den Vorrang erhielt. Mit dem wurden dann auch die Infinitive von Verben substantiviert – und das ist ein Schritt weit über die Substantivierung der Adjektive hinaus. In deren Rahmen gehört noch die Substantivierung von Partizipien (die sind ja Verbalnomina) – auch hier im dritten Geschlecht, vornehmlich bei Aristoteles: to on, ta onta. Aber Parmenides: to noein, to legein, to einai... Das sind Kunstgriffe, die eigentlich das reflexive Wissen um die Sprache (Linguistik, Grammatik) ins Objektwissenschaftliche zu drehen suchen.
Vielleicht ist Aristoteles, der späte, am weitesten gegangen mit der Schöpfung von Begriffen mittels des Artikels to. Er hat aus der Präposition metaxy mit dem to unseren Begriff „Medium“ geschaffen; das Temporaladverb nyn hat er mit dem Artikel substantiviert, um es in den Plural setzen zu können. Ja er hat ganze Sätze, wenn auch kleine, mit dem to quasi substantiviert, ja mehr, nämlich deklinierbar gemacht, also manipulierbar gemacht. Ti estin – ein kleiner Frage- oder Relativsatz, wird von Aristoteles mit tou in den Genitiv gesetzt, ich würde sagen gedreht: 988a 10f. Auch komplexere Verbalfolgen können mit dem Artikel to gleichsam zusammengepackt werden und dann wie Substantive eingesetzt werden. Berühmt: to ti en einai. Das to gehört zu einai, aber von dem hängt ab bzw. das wird bestimmt durch diese Art Nebensatz: ti en: was war.
Aristoteles hat einen frühesten Sprachtrick der frühesten Philosophen weitergetrieben und auf die Spitze getrieben. So auch mit to autoanthropos – womit zwar der eigentliche, der wahre Mensch bezeichnet wird, allerdings der platonische, der – angeblich – asexuelle: „das Mensch an sich“.
Walter Seitter