τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 13. Dezember 2013

In der Metaphysik lesen (1002b 30 – 1003a 17)

In der letzten Stunde haben wir die Analogisierung zwischen „Wesen“ und „Phallus“ so weit getrieben, daß wir gefragt haben, ob auch das Wesen von so etwas wie „Kastration“ geschlagen ist, und haben die Frage philosophiehistorisch so beantwortet, daß die seinerzeit schon von den Sophisten betriebene Infragestellung des Wesens – und seine Verdrängung durch Akzidenzien – seit der Neuzeit erfolgreich vorangetrieben worden ist – so sehr, daß heute „Essenzialismus“ eigentlich nur noch ein Schimpfwort ist. Auf der anderen Seite haben wir festgestellt, daß die sexuelle Fortpflanzung (mit der ja der Phallus auch irgendwie zu tun hat) ohne Selbigkeit der Wesensform (bei Mann, Frau, Kind ....) nicht zu denken ist (wiewohl die Gentechnologie heute auch da Manipulationsmöglichkeiten in Aussicht stellt).

Das Konzept der Wesensform scheint also nicht einfach aufgegeben werden zu können. Dennoch hat die Tendenz zur „Wesensauflösung“ auch etwas, was heute nicht wegzudenken ist – etwa in den Bereichen des Kulturellen oder Politischen. Kulturen, in denen das „Wesen des Guten“ ein für allemal festgelegt ist, flößen uns Bedenken ein. Wo man sich vom „Wesen des Guten“ oder vom „Wesen des Menschen“ konkrete Vorstellungen macht und diese für überzeitlich und überörtlich gültig hält (indem man etwa für das Wesen des Menschen den „guten Wilden“ oder den WASP einsetzt), ist die Gefahr sehr groß, eigentlich unausweichlich, daß man das „Wesen“ mit partikularen Bestimmungen auffüllt und verwechselt, die gar nicht „wesentlich“ sind. Ein derartiger vermeintlicher „Essenzialismus“ entspräche dem, was heute auch „Fundamentalismus“ genannt wird. Insofern wäre die Tendenz zur Wesensauflösung eine Chance zur Reinigung des Wesensverständnisses, zu seiner – gewissermaßen platonischen – Rückführung aufs Allgemein-Wesentliche, das überhaupt nur sprachlich gefaßt werden kann – und eben nicht konkret-anschaulich vorgestellt.

In unserer Lektüre der Poetik haben wir festgestellt, daß Aristoteles selber – bei der Gegenstandsbestimmung für die tragödische Mimesis – das Wesen „Mensch“ glatt ersetzt durch die praxis, die ihrerseits eine Verkettung von pragmata ist. Also das Wesen (lateinisch die Substanz) durch Akzidenzien – wofür ich den Ausdruck „Akzidenzialismus“ geprägt habe.[1]

In unserer Textpassage zeigt Aristoteles mit einem Satz, daß er die Wesensauflösung aus einer abstrakten ontologischen Hypothese aus phantastisch- und drastisch-zoologisch schlußfolgern kann: „Wenn das allgemeine Prädikat ein individuelles Ding wäre, dann würde Sokrates viele (Lebe)Wesen sein: er wäre er und der Mensch und das Lebewesen (Tier).“ (1003a 12). Also ein multiples Monster. Im Wenn-Satz aber streift er die oben erwähnte Identifizierung von Allgemeinem und Einzelnem, mit der die Verkennung des Allgemeinen einsetzt.

Nächste Sitzung am Mittwoch, dem 8. Jänner 2014


Walter Seitter

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Sitzung vom 11. Dez. 2013


[1] Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010): 100ff. Für die Ontologie des Politischen habe ich das Problematische des „Willens zum Wesen“ sowie den Vorrang der Akzidenzien schon 1981 ins Auge gefaßt – siehe Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft. Mit einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft (Weilerswist 2012): 169ff., 281ff.

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