Beim Einstieg in ein neues
„Buch“ der sogenannten Metaphysik merkt man, daß es sich um eine lose
gefügte Textfolge handelt, die zwar ein Thema verfolgt – die Suche nach einer
irgendwie neuen, jedenfalls noch nicht durchformulierten, geschweige denn
abgeschlossenen Wissenschaft, welche die Existenz verschiedener bereits
etablierter Wissenschaften (mitsamt einer bestimmten
Wissenschaftsklassifikation) voraussetzt. Suche nach einer zusätzlichen Wissenschaft,
welche die Ursachenforschung weitertreibt als dies die schon bekannten
Wissenschaften tun. Sucht sie nach zusätzlichen Ursachen oder nach noch
ursächlicheren? Geht es um „Ur-Sachen“ in einem pointierten Sinn oder um
Zusätze, Zugaben, „Zu-Sachen“?
Es scheint sich um eine groß
angelegte Suchbewegung zu handeln, die in mehreren unterschiedlichen Anläufen
vorangetrieben wird: mehrfache Definition der „gesuchten Wissenschaft“,
Auflistung und Kritik bisheriger Vorläufer, Aufstellung und Behandlung bisher
bekannter Aporien. Das IV. Buch setzt bereits in seinem ersten Satz mit einem
doppelten Paukenschlag ein: es wird die Existenz einer solchen Wissenschaft
schlicht und einfach behauptet und sie erhält ihre neueste, man könnte sagen
ihre „aristotelischste“ Definition: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende
als seiendes betrachtet ...“ Materialobjekt der Wissenschaft ist also das
Seiende und gleichzeitig ist „seiend“ das Formalobjekt: Insistieren auf der
Seiendheit, Insistenz der Seiendheit. Verdoppelung des Seienden durch
Zwischenschaltung des Bindewortes „als“, das eine stärkere Identität suggeriert
als etwa ein „und“. Es kommt aber auch eine Und-Hinzufügung, die allerdings die
erste Verdoppelung wiederholt oder noch einmal verdoppelt: und das ihm
Zukommende, das ihm „archisch“ also zuvörderst Zugrundeliegende, und zwar ihm
selber, ihm „an sich“ bzw. heideggerisch übersetzt ihm „an ihm selber“. Diese
Und-Hinzufügung sagt mit anderen Worten dasselbe wie das „als seiendes“ – und
doch kommt eine neue Nuance dazu: eine Pluralisierung, die dem griechischen
Sprachgebrauch naheliegt, der etwa „alles“ in der Regel mit dem Plural
ausdrückt: panta. Wir werden aber gleich sehen, daß diese supplementäre
Pluralisierung von Aristoteles explizit zu einer eigenen Aussage
auseinandergefaltet wird.
Schon im zweiten Satz wird die
eben definierte Wissenschaft von den „Teilwissenschaften“ unterschieden, welche
das Seiende unter einem anderen, unter einem begrenzenden Als-Gesichtspunkt
beschneiden und betrachten, unter dem Aspekt eines Akzidens, wie etwa die
mathematischen Wissenschaften, die im Text schon öfter erwähnt worden sind,
weil sie bereits bekannt sind (997b). Dann aber kommt Aristoteles auf seine
schon oft formulierte Gegenstandsbestimmung der gesuchten Wissenschaft zurück:
es gilt „die Prinzipien und höchsten Ursachen“ aufzusuchen – aber von was, eben
von dem Seienden und zwar von dem Seienden an sich. Wie das ja bereits
diejenigen versucht haben, die die Elemente von dem Seienden gesucht haben. So
verbindet Aristoles die ältere und die neuere Definition der gesuchten
Wissenschaft und bezieht sich auch auf die Vorläufer in diesem Geschäft (auf
die er ja im I. und im III. Buch schon eingegangen war).
Dann aber folgt ein Satz, der
mehr ist als eine Definition, nämlich ein Lehrsatz, obgleich er eigentlich nur
den herrschenden Sprachgebrauch beschreibt und festschreibt: das Seiende wird
vielfach, differenziell, plural ausgesagt, aber nicht schlechterdings
vieldeutig (wie etwa das Wort „Hahn“ einen männlichen Vogel und ein
Wasserleitungsstück bezeichnet) sondern so, daß die verschiedenen
Bedeutungsnuancen alle auf die eine Grundbestimmung verweisen: die Seiendheit.
Als analoge Beispiele nennt Aristoteles die beiden Eigenschaftswörter „gesund“
und „ärztlich“ – die allerdings den Nachteil (oder auch den Vorteil) aufweisen,
daß sie auch zueinander das semantische Naheverhältnis haben, welches die
verschiedenen Verwendungen sowohl von „gesund“ wie auch von „ärztlich“
zusammenhält. Beide Adjektive lassen sich jeweils auf Eigenschaften,
Fähigkeiten, Erzeugung, Praxis, Anzeichen, Theorie anwenden – also auf
unterschiedliche Positionierungen in einem semantischen Feld.
Beim sehr allgemeinen Prädikat
„seiend“ hat die Vervielfältgung, um die es Aristoteles geht, einen anderen
Charakter. Es gibt da kein bestimmtes semantisches Feld, sondern die reine
Differenzierung von Positionen: im Sprachgebrauch oder eben in der Welt. An der
Spitze dieses Positionenfeldes steht die ousia – Seiendheit, Wesenheit,
Wesen, Substanz. In erster Linie wird on von den ousiai
ausgesagt: eine tautologische Selbstverständlichkeit. Das Interessante, das
Großzügige an der aristotelischen These besteht nun daran, daß auch andere
Bestimmungen mit dem Prädikat „seiend“ ausgezeichnet werden – sofern sie mit
dem Prinzip ousia zusammenhängen. Es gibt also Zusammenhang, Prinzip,
Abhängigkeit: Hierarchie. Welche Bestimmungen außer den ousiai sind das?
Die pathe – also die Erleidungen, die passiven Bestimmungen eines
Wesens. Was genau der akzidenziellen Kategorie paschein entspricht. Oder
Bestimmungen, welche ein „Weg in die Seiendheit“ sind (1003b 7), ein Weg in die
Wesenheit, ein Weg ins Wesen. Dafür läßt sich nun kaum eine der bekannten
Kategorien namhaft machen, so empfiehlt es sich weiterzuschauen: Aristoteles
nennt nun Vergehen (Zerstörung), Beraubung (Mangel), erst danach Qualität, die
nun tatsächlich eine Kategorie ist. Vergehen und Beraubung sind wichtige
Begriffe der aristotelischen Physik, aber sie fallen nicht unter die
Kategorien. Vielleicht steht das Vergehen, die Vernichtung dem „Weg“ am
nächsten, nämlich als Gegenpol. Dann handelt es sich nicht um zwei
Weiterbestimmungen an etwas schon Bestehendem sondern um Momente oder Prozesse,
in denen die Existenz der ousia auf dem Spiel steht. Also um „Akzidenzien“,
die „vor“ den bekannten neun Akzidenzien positioniert sind; genau genommen
sogar den ousiai vorgeschaltet sind, zumindest was deren Existenz
betrifft – also den ousiai als „ersten Substanzen“. Die ersten fünf von
Aristoteles genannten Nicht-ousiai, von welchen das on ausgesagt
werden, bilden also bereits eine recht unordentliche Gesellschaft aus normalen
Akzidenzien und anderen Hauptbegriffen der Physik, die eine größere
Tragweite haben. Dazu kommt, daß der „Weg ins Wesen“, den ich jetzt als Entstehung
(genesis) gedeutet habe, ein äußerst ungewöhnlicher Ausdruck, sozusagen
eine topische Metapher zu sein scheint.
Eine Metapher, die sich sogar
auf einer anderen Ebene als metaphorischer Titel der ganzen Suchbewegung namens
Metaphysik eignen würde:
WEG INS WESEN
Was ziemlich heideggerisch
klingt, doch wörtlich aristotelisch ist. Wenn die Weg-Metapher – auf dieser
Ebene – erst zu Beginn des IV. Buches auftaucht, muß man sie nicht so
verstehen, daß der Weg etwa erst hier begänne. Die negative Version der
Weg-Metapher hat übrigens explizit das ganze III. , das Aporien-Buch
ausgefüllt: Ab-Wege, Un-Wege, Irr-Wege, Sackgassen – aber mit der Möglichkeit
von Auswegen (wenn man sich anstrengt). Der Weg hat schon mit dem ersten Buch
begonnen. In Wirklichkeit sogar schon vorher: mit allen „normalen“ Büchern des
Aristoteles und laut Aristoteles natürlich schon weit vorher.
Die Rolle, die der Ausdruck
„Weg ins Wesen“ im Text selber spielt, liegt darin, daß die – möglicherweise
langsame – Entstehung irgendeines Wesens selber auch schon „seiend“ genannt
werden kann, sozusagen im Vorgriff auf das Entstehende. Dieser Weg ist also
kein Akzidens im üblichen Sinn, sondern ein Prä- oder Antezidens: ein Vor-Gang
im Sinne eines Vorspiels, einer Vorbereitung.
Die nächsten Nicht-Wesen, die
auch „seiend“ genannt werden können, gehen inhaltlich in dieselbe Richtung: es
sind Herstellungs- oder Entstehungsmomente des Wesens. Wobei die
Herstellungsmomente mit ihrer Benennung als poietika an die Kategorie poiein
denken lassen (das Gegenstück zur Kategorie paschein): ob diese
Kategorie eine Herstellungstätigkeit meint, die vom Wesen ausgeht, oder eine,
die zum Wesen führt (wie der Weg), sei dahingestellt. Sodann Bestimmungen, die
sich auf die Wesenheit beziehen (Akzidens der Relation) und schließlich sogar
Verneinungen der Wesenheit sowie der bisher genannten Bestimmungen: denn auch
zum Nicht-Seienden sagen wir: es sei nicht-seiend. Hier wird also die
bloße Kopula-Funktion des Verbs „Sein“ herangezogen, damit auch alle möglichen
Nichtse sein können – nämlich Nichtse.
Diese - im Mittelalter so
genannte - Analogia entis impliziert einen Begriff von „Seiendem“ oder
„Sein“, der weder äquivok (völlig vieldeutig) noch univok (schlicht eindeutig)
sondern dermaßen flexibel ist, daß er nicht nur die Akzidenzien sondern auch
die Entstehung, die Vernichtung und das Nichts zusammenhält - aber sehr lose
zusammenhält. Zusammenhaltung und Auseinanderhaltung allergrößter positioneller
Differenzen: das will Aristoteles mit dieser These verbinden.
Er ist schon in 992b (welche
Textpassage wir im April 2012 gelesen oder vielmehr überlesen haben), auf sie
zu sprechen gekommen und hat dort die Auseinanderhaltung so stark betont, daß
er behauptet hat, es sei nicht möglich,
die Elemente aller Seienden aufzusuchen und aufzufinden (992b 24). Ein Satz,
der uns in diesem Buch, in der Metaphysik, sehr erstaunen muß. Halten
wir uns vorläufig an einen weniger schroff klingenden Satz: „Und es gibt auch
nicht (bloß) eine einzige Wissenschaft vom Seienden ....“ (Eud. Eth. 1217b 35)
Walter Seitter
-
Sitzung vom 8. Jänner
2014
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