τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 10. Januar 2014

In der Metaphysik lesen (1003a 21 – 1003b 10)

Beim Einstieg in ein neues „Buch“ der sogenannten Metaphysik merkt man, daß es sich um eine lose gefügte Textfolge handelt, die zwar ein Thema verfolgt – die Suche nach einer irgendwie neuen, jedenfalls noch nicht durchformulierten, geschweige denn abgeschlossenen Wissenschaft, welche die Existenz verschiedener bereits etablierter Wissenschaften (mitsamt einer bestimmten Wissenschaftsklassifikation) voraussetzt. Suche nach einer zusätzlichen Wissenschaft, welche die Ursachenforschung weitertreibt als dies die schon bekannten Wissenschaften tun. Sucht sie nach zusätzlichen Ursachen oder nach noch ursächlicheren? Geht es um „Ur-Sachen“ in einem pointierten Sinn oder um Zusätze, Zugaben, „Zu-Sachen“?

Es scheint sich um eine groß angelegte Suchbewegung zu handeln, die in mehreren unterschiedlichen Anläufen vorangetrieben wird: mehrfache Definition der „gesuchten Wissenschaft“, Auflistung und Kritik bisheriger Vorläufer, Aufstellung und Behandlung bisher bekannter Aporien. Das IV. Buch setzt bereits in seinem ersten Satz mit einem doppelten Paukenschlag ein: es wird die Existenz einer solchen Wissenschaft schlicht und einfach behauptet und sie erhält ihre neueste, man könnte sagen ihre „aristotelischste“ Definition: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als seiendes betrachtet ...“ Materialobjekt der Wissenschaft ist also das Seiende und gleichzeitig ist „seiend“ das Formalobjekt: Insistieren auf der Seiendheit, Insistenz der Seiendheit. Verdoppelung des Seienden durch Zwischenschaltung des Bindewortes „als“, das eine stärkere Identität suggeriert als etwa ein „und“. Es kommt aber auch eine Und-Hinzufügung, die allerdings die erste Verdoppelung wiederholt oder noch einmal verdoppelt: und das ihm Zukommende, das ihm „archisch“ also zuvörderst Zugrundeliegende, und zwar ihm selber, ihm „an sich“ bzw. heideggerisch übersetzt ihm „an ihm selber“. Diese Und-Hinzufügung sagt mit anderen Worten dasselbe wie das „als seiendes“ – und doch kommt eine neue Nuance dazu: eine Pluralisierung, die dem griechischen Sprachgebrauch naheliegt, der etwa „alles“ in der Regel mit dem Plural ausdrückt: panta. Wir werden aber gleich sehen, daß diese supplementäre Pluralisierung von Aristoteles explizit zu einer eigenen Aussage auseinandergefaltet wird.

Schon im zweiten Satz wird die eben definierte Wissenschaft von den „Teilwissenschaften“ unterschieden, welche das Seiende unter einem anderen, unter einem begrenzenden Als-Gesichtspunkt beschneiden und betrachten, unter dem Aspekt eines Akzidens, wie etwa die mathematischen Wissenschaften, die im Text schon öfter erwähnt worden sind, weil sie bereits bekannt sind (997b). Dann aber kommt Aristoteles auf seine schon oft formulierte Gegenstandsbestimmung der gesuchten Wissenschaft zurück: es gilt „die Prinzipien und höchsten Ursachen“ aufzusuchen – aber von was, eben von dem Seienden und zwar von dem Seienden an sich. Wie das ja bereits diejenigen versucht haben, die die Elemente von dem Seienden gesucht haben. So verbindet Aristoles die ältere und die neuere Definition der gesuchten Wissenschaft und bezieht sich auch auf die Vorläufer in diesem Geschäft (auf die er ja im I. und im III. Buch schon eingegangen war).

Dann aber folgt ein Satz, der mehr ist als eine Definition, nämlich ein Lehrsatz, obgleich er eigentlich nur den herrschenden Sprachgebrauch beschreibt und festschreibt: das Seiende wird vielfach, differenziell, plural ausgesagt, aber nicht schlechterdings vieldeutig (wie etwa das Wort „Hahn“ einen männlichen Vogel und ein Wasserleitungsstück bezeichnet) sondern so, daß die verschiedenen Bedeutungsnuancen alle auf die eine Grundbestimmung verweisen: die Seiendheit. Als analoge Beispiele nennt Aristoteles die beiden Eigenschaftswörter „gesund“ und „ärztlich“ – die allerdings den Nachteil (oder auch den Vorteil) aufweisen, daß sie auch zueinander das semantische Naheverhältnis haben, welches die verschiedenen Verwendungen sowohl von „gesund“ wie auch von „ärztlich“ zusammenhält. Beide Adjektive lassen sich jeweils auf Eigenschaften, Fähigkeiten, Erzeugung, Praxis, Anzeichen, Theorie anwenden – also auf unterschiedliche Positionierungen in einem semantischen Feld. 

Beim sehr allgemeinen Prädikat „seiend“ hat die Vervielfältgung, um die es Aristoteles geht, einen anderen Charakter. Es gibt da kein bestimmtes semantisches Feld, sondern die reine Differenzierung von Positionen: im Sprachgebrauch oder eben in der Welt. An der Spitze dieses Positionenfeldes steht die ousia – Seiendheit, Wesenheit, Wesen, Substanz. In erster Linie wird on von den ousiai ausgesagt: eine tautologische Selbstverständlichkeit. Das Interessante, das Großzügige an der aristotelischen These besteht nun daran, daß auch andere Bestimmungen mit dem Prädikat „seiend“ ausgezeichnet werden – sofern sie mit dem Prinzip ousia zusammenhängen. Es gibt also Zusammenhang, Prinzip, Abhängigkeit: Hierarchie. Welche Bestimmungen außer den ousiai sind das? Die pathe – also die Erleidungen, die passiven Bestimmungen eines Wesens. Was genau der akzidenziellen Kategorie paschein entspricht. Oder Bestimmungen, welche ein „Weg in die Seiendheit“ sind (1003b 7), ein Weg in die Wesenheit, ein Weg ins Wesen. Dafür läßt sich nun kaum eine der bekannten Kategorien namhaft machen, so empfiehlt es sich weiterzuschauen: Aristoteles nennt nun Vergehen (Zerstörung), Beraubung (Mangel), erst danach Qualität, die nun tatsächlich eine Kategorie ist. Vergehen und Beraubung sind wichtige Begriffe der aristotelischen Physik, aber sie fallen nicht unter die Kategorien. Vielleicht steht das Vergehen, die Vernichtung dem „Weg“ am nächsten, nämlich als Gegenpol. Dann handelt es sich nicht um zwei Weiterbestimmungen an etwas schon Bestehendem sondern um Momente oder Prozesse, in denen die Existenz der ousia auf dem Spiel steht. Also um „Akzidenzien“, die „vor“ den bekannten neun Akzidenzien positioniert sind; genau genommen sogar den ousiai vorgeschaltet sind, zumindest was deren Existenz betrifft – also den ousiai als „ersten Substanzen“. Die ersten fünf von Aristoteles genannten Nicht-ousiai, von welchen das on ausgesagt werden, bilden also bereits eine recht unordentliche Gesellschaft aus normalen Akzidenzien und anderen Hauptbegriffen der Physik, die eine größere Tragweite haben. Dazu kommt, daß der „Weg ins Wesen“, den ich jetzt als Entstehung (genesis) gedeutet habe, ein äußerst ungewöhnlicher Ausdruck, sozusagen eine topische Metapher zu sein scheint.

Eine Metapher, die sich sogar auf einer anderen Ebene als metaphorischer Titel der ganzen Suchbewegung namens Metaphysik eignen würde:

WEG INS WESEN

Was ziemlich heideggerisch klingt, doch wörtlich aristotelisch ist. Wenn die Weg-Metapher – auf dieser Ebene – erst zu Beginn des IV. Buches auftaucht, muß man sie nicht so verstehen, daß der Weg etwa erst hier begänne. Die negative Version der Weg-Metapher hat übrigens explizit das ganze III. , das Aporien-Buch ausgefüllt: Ab-Wege, Un-Wege, Irr-Wege, Sackgassen – aber mit der Möglichkeit von Auswegen (wenn man sich anstrengt). Der Weg hat schon mit dem ersten Buch begonnen. In Wirklichkeit sogar schon vorher: mit allen „normalen“ Büchern des Aristoteles und laut Aristoteles natürlich schon weit vorher.

Die Rolle, die der Ausdruck „Weg ins Wesen“ im Text selber spielt, liegt darin, daß die – möglicherweise langsame – Entstehung irgendeines Wesens selber auch schon „seiend“ genannt werden kann, sozusagen im Vorgriff auf das Entstehende. Dieser Weg ist also kein Akzidens im üblichen Sinn, sondern ein Prä- oder Antezidens: ein Vor-Gang im Sinne eines Vorspiels, einer Vorbereitung.

Die nächsten Nicht-Wesen, die auch „seiend“ genannt werden können, gehen inhaltlich in dieselbe Richtung: es sind Herstellungs- oder Entstehungsmomente des Wesens. Wobei die Herstellungsmomente mit ihrer Benennung als poietika an die Kategorie poiein denken lassen (das Gegenstück zur Kategorie paschein): ob diese Kategorie eine Herstellungstätigkeit meint, die vom Wesen ausgeht, oder eine, die zum Wesen führt (wie der Weg), sei dahingestellt. Sodann Bestimmungen, die sich auf die Wesenheit beziehen (Akzidens der Relation) und schließlich sogar Verneinungen der Wesenheit sowie der bisher genannten Bestimmungen: denn auch zum Nicht-Seienden sagen wir: es sei nicht-seiend. Hier wird also die bloße Kopula-Funktion des Verbs „Sein“ herangezogen, damit auch alle möglichen Nichtse sein können – nämlich Nichtse.

Diese - im Mittelalter so genannte - Analogia entis impliziert einen Begriff von „Seiendem“ oder „Sein“, der weder äquivok (völlig vieldeutig) noch univok (schlicht eindeutig) sondern dermaßen flexibel ist, daß er nicht nur die Akzidenzien sondern auch die Entstehung, die Vernichtung und das Nichts zusammenhält - aber sehr lose zusammenhält. Zusammenhaltung und Auseinanderhaltung allergrößter positioneller Differenzen: das will Aristoteles mit dieser These verbinden.

Er ist schon in 992b (welche Textpassage wir im April 2012 gelesen oder vielmehr überlesen haben), auf sie zu sprechen gekommen und hat dort die Auseinanderhaltung so stark betont, daß er behauptet hat,  es sei nicht möglich, die Elemente aller Seienden aufzusuchen und aufzufinden (992b 24). Ein Satz, der uns in diesem Buch, in der Metaphysik, sehr erstaunen muß. Halten wir uns vorläufig an einen weniger schroff klingenden Satz: „Und es gibt auch nicht (bloß) eine einzige Wissenschaft vom Seienden ....“ (Eud. Eth. 1217b 35)


Walter Seitter

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Sitzung vom 8. Jänner 2014                     

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