Nach den Einzelbeispielen für die Bedeutungen bzw.
Verwendungen von „Ursache“ hat Aristoles ausdrücklich gesagt, dass dieser
Begriff „vielfach ausgesagt“ wird. Insofern wird er mit dem Begriff des
Seienden parallelisiert, was ja nicht sehr verwunderlich ist, denn „Ursachen“
sind nun einmal „Sachen“, denen eine besondere Kraft innewohnt: nämlich andere
Sachen hervorzubringen oder zu ermöglichen. Die Ursachen sind eine Teilmenge
der archai und ihre Ursächlichkeit lässt sich im Großen und Ganzen als
physikalische verstehen, trotzdem umfassen sie mehr als dieser Begriff in
unserer Sprache meint.
Die verschiedenen Ursächlichkeiten werden zunächst
in vier „offensichtlichste“ Weisen unterschieden: Materialursachen (nicht nur
Materialien, sondern auch auch Teile und Voraussetzungen), Formursachen
(genannt das ti en einai oder die Art, aber auch das Ganze und die
Zusammensetzung (zwei neue Bezeichnungen, die zu den früher aufgezählten
dazukommen)), dann die Wirkursachen als Ursprung für Veränderung oder Zustand
und schließlich das Weswegen, auch Gutes oder Bestes genannt. Dieser vierte
Ursachentyp, der sich von unserem Gebrauch des Begriffs sehr weit entfernt,
zeigt auch, dass die aristotelische Unterscheidung zwischen theoretischen
Wissenschaften einerseits , poietischen oder praktischen Wissenschaften
andererseits, doch nicht so strikt ist. Darüber hinaus unterscheiden sich die
Ursachen (selbst die einer selben Weise zugehörigen) in logischer Hinsicht, wie
eben die entsprechenden Sachen. Der Bildhauer Polykleitos als Ursache (wir
würden eher sagen: Urheber) der von ihm hergestellten Statuen lässt sich
„logisch“ aufteilen: er ist Gattung: Lebewesen; Art: Mensch; Individuum:
Polykleitos. Und einige von denen können als „akzidenziell“ in bezug auf andere
angesehen werden. Die logische Zersplitterung des Künstlers mag uns als
Spielerei erscheinen; man kann sie aber auch als kunstwissenschaftliche
Fragestellung auffassen: biographische oder psychologische oder soziologische
oder rassische oder evolutionäre Betrachtung.
Für uns – wohl auch für Aristoteles – gehört
Polykleitos (480-415) der Kunstgeschichte an, ist also möglicher Gegenstand
einer historischen Betrachtung. Daher noch einmal die Frage, ob Aristoteles die
Dimension der historischen Kausalität, die noch stärker vom Begriff arche
– mit der Hauptbedeutung „Anfang“ – nahegelegt wird, tatsächlich vernachlässigt
und wenn ja wieso. In der Poetik hat Aristoteles die
Geschichtsschreibung erwähnt – allerdings mit einer Minderbewertung gegenüber
der Dichtung, weil diese „philosophischer“ sei. Das ändert aber nichts daran,
dass die Geschichtsschreibung in bezug auf ihre Gegenstände eine enge Kollegin
der Dichtung ist. In dieser sollen die Ereignisse wahrscheinlich-notwendig aus
den Ereignissen, nämlich den früheren, hervorgehen. Damit werden die jeweils
früheren als Ursachen für die späteren postuliert – auch wenn der Begriff
„Ursache“ gar nicht gebraucht wird. Handlungselemente sind grundsätzlich
„Ursachen“ für Handlungselemente, pragmata für pragmata.
Aristoteles hat das mit dem wahrscheinlich-notwendigen Hervorgehen, mit dem
Hervorgehen der „Lösung“ aus der „Knüpfung“ ausgedrückt. Eine Art Automatik,
die mit der Sukzession und Akkumulation der Ereignisse gegeben ist.
Ursächlichkeitsfaktoren, die Aristoteles hier unter arche nennt und die
in den Tragödien eine Rolle spielen sind: Eltern, Herrscher, Überlegungen,
Entscheidungen. Unter den Entscheidungen spielen in der Tragödie solche eine
Rolle, die „Fehler“ genannt worden sind.
Die historische Kausalität ist von Aristoteles in
der Poetik abgehandelt worden. Dort hat er der Geschichtsschreibung
vorgehalten, sie berichte vom Ablauf der Ereignisse, ohne eine stringente
Ursächlichkeit aufzuzeigen. Heißt das, dass die reale Geschichte nur mit
lückenhafter, mit akzidenzieller Ursächlichkeit abläuft? Während die Dichtung
eine historische Ursächlichkeit künstlich herstellt, verdichtet?
Hier, in den Betrachtungen über die Ursachen,
spielen die ethisch-politisch-historischen Ursachen doch eine geringere Rolle
als die physischen. Stimmt das? Verweisen nicht auch die Zweckursachen auf die
anthropische Kausalität? Wird nicht mit der Zersplitterung des Bildhauers
Polyklet eine spezifisch menschliche Kausalität angedeutet – welche die
animalische nicht ausschließt?
Walter Seitter
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Sitzung vom 3. Dezember 2014
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