τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 14. November 2014

In der Metaphysik lesen (1013a 23 – 1013b 16)

Unter dem Stichwort arche hat Aristoteles unterschieden zwischen dem pragmatischen Anfang des Lernens oder Erkennens und dem sachlogischen. Fragen wir uns nun, wie er selber in diesem Buch in bezug auf die gesuchte Wissenschaft vorgeht, so stellen wir fest, dass die pragmatischen Zugänge überwiegen (eben weil die „gesuchte“ Wissenschaft ihren Status als gesuchte Wissenschaft beibehält) und die sachlogischen nur angedeutet, höchstens im 4. Buch etwas ausgeführt werden – aber da gar nicht hinsichtlich der „Metaphysik“ im engeren Sinn, sondern hinsichtlich der Ontologie sowie der logischen Gebote und Verbote (die jedoch wieder mehr ins Pragmatische hineinreichen).
Die pragmatischen Anfänge des Lernens verteilen sich selber wiederum auf ein größeres Spektrum. In seiner Reflexion darauf beschränkt sich Aristoteles auf die „ontogenetischen“ oder individuellen. Aber im 1. Buch hat er ausführlich individuelle Anfänge der gesuchten Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt gesammelt und beurteilt, dass sie Beiträge zur „phylogenetischen“ Entwicklung dieser Wissenschaft waren oder sein sollten, und damit hat er die Ebene betreten, die wir die historische oder historiographische nennen: faktische Anfänge oder Ursprünge von etwas, was es jetzt gibt.

In der Poetik hat Aristoteles die Suche nach den Anfängen und nach der Entwicklung der Tragödie recht konzis formuliert (und ist dabei nicht nur auf frühere Zeiten, sondern auch auch auf verschiedene geographische Gegenden eingegangen (zwischen denen in Griechenland auf allen Gebieten darum gestritten worden ist, welche die „erste“ ist)).
Je mehr sich die Historiographie für frühe oder „erste“ Anfänge interessiert, umso mehr legt sie sich – seit dem 19. Jahrhundert – den Ehrentitel „Archäologie“ zu, welches Wort natürlich von arche kommt. Aber Aristoteles hat in seinem Eintrag zur arche diese historische Bedeutung ignoriert (ansatzweise kommt er mit Vater und Mutter, also mit der Genealogie, in ihre Nähe). Und dies, obwohl er die arche in eine Vielzahl von Bedeutungen zergliedert.
Was ist von dieser Zurückhaltung in Richtung Historie zu halten? Unsere moderne Kultur neigt eher zum Gegenteil und erhebt einschlägige Disziplinbezeichnungen in den Rang von philosophischen Methoden. Nietzsche die Genealogie. Foucault die Archäologie. Wobei Foucault seine metaphorische Verwendung von „Archäologie“ mit einer „falschen“ Etymologie begründet: er leitet seine Archäologie vom „Archiv“ ab, nennt sie aber nicht „Archivologie“.


Der Eintrag zum Stichwort Ursache (aition) erinnert im Duktus, mit der Aufzählung von sehr heterogenen Beispielen, zum Teil sogar mit selben Beispielen, an den Eintrag zur arche. Auch hier fällt auf, dass das Bedeutungsspektrum des griechischen Wortes weit über dasjenige des deutschen Wortes hinausreicht: unter anderem deswegen, weil es auch immanente Teile, Bestandteile meint. Nicht nur die „Materialursachen“, sondern auch die „Formursachen“, für die hier gleich drei oder vier fast synonyme Ausdrücke genannt werden. Und als Beispiel die Ursache „zwei zu eins“ für die Sache „Oktave“. Also eine mathematische Ursache für eine musikalische Sache. Und der Bereich der Medizin wird damit erläutert, dass vier verschiedene „Ursachen“ für die Gesundheit genannt werden. Hier wie auch in der Musik hat die Angabe der Ursachen sowohl theoretische Bedeutung (Physik) als auch technisch-poietische (Kunstfertigkeit).
Sodann die Einschärfung von der Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Ursache“. Was uns fremdartig und chaotisch vorkommt, das liegt zwar zum einen an den sprachlichen Unterschieden, zum anderen ist es Aristoteles selber aufgefallen, und er tut es weder beschönigen oder abmildern. Vielmehr erklärt er es zu einer Wesenseigenschaft dieses Begriffs. Die Semantik des Begriffs ist „wesentlich“ chaotisch und er gerät damit in die Nähe der Chaotik, die Aristoteles im 4. Buch den Vorsokratikern und Sophisten zum Vorwurf gemacht hat und eigentlich abwehren wollte. Hier wehrt er sie nicht ab, indem er sie verbietet oder negiert. Er stellt sie klar, indem er sie erläutert, bespricht, ausführt – und sogar mit seinem Hauptbegriff des „Seienden“ parallelisiert, mit dem es ebenso chaotisch bestellt ist: analogia entis.

Walter Seitter


--
Sitzung vom 12. November 2014 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen