Unter dem Stichwort arche hat Aristoteles
unterschieden zwischen dem pragmatischen Anfang des Lernens oder Erkennens und
dem sachlogischen. Fragen wir uns nun, wie er selber in diesem Buch in bezug
auf die gesuchte Wissenschaft vorgeht, so stellen wir fest, dass die
pragmatischen Zugänge überwiegen (eben weil die „gesuchte“ Wissenschaft ihren
Status als gesuchte Wissenschaft beibehält) und die sachlogischen nur
angedeutet, höchstens im 4. Buch etwas ausgeführt werden – aber da gar nicht
hinsichtlich der „Metaphysik“ im engeren Sinn, sondern hinsichtlich der
Ontologie sowie der logischen Gebote und Verbote (die jedoch wieder mehr ins
Pragmatische hineinreichen).
Die pragmatischen Anfänge des Lernens verteilen
sich selber wiederum auf ein größeres Spektrum. In seiner Reflexion darauf
beschränkt sich Aristoteles auf die „ontogenetischen“ oder individuellen. Aber
im 1. Buch hat er ausführlich individuelle Anfänge der gesuchten Wissenschaft
unter dem Gesichtspunkt gesammelt und beurteilt, dass sie Beiträge zur
„phylogenetischen“ Entwicklung dieser Wissenschaft waren oder sein sollten, und
damit hat er die Ebene betreten, die wir die historische oder
historiographische nennen: faktische Anfänge oder Ursprünge von etwas, was es
jetzt gibt.
In der Poetik hat Aristoteles die Suche nach
den Anfängen und nach der Entwicklung der Tragödie recht konzis formuliert (und
ist dabei nicht nur auf frühere Zeiten, sondern auch auch auf verschiedene
geographische Gegenden eingegangen (zwischen denen in Griechenland auf allen
Gebieten darum gestritten worden ist, welche die „erste“ ist)).
Je mehr sich die Historiographie für frühe oder
„erste“ Anfänge interessiert, umso mehr legt sie sich – seit dem 19.
Jahrhundert – den Ehrentitel „Archäologie“ zu, welches Wort natürlich von arche
kommt. Aber Aristoteles hat in seinem Eintrag zur arche diese
historische Bedeutung ignoriert (ansatzweise kommt er mit Vater und Mutter,
also mit der Genealogie, in ihre Nähe). Und dies, obwohl er die arche in
eine Vielzahl von Bedeutungen zergliedert.
Was ist von dieser Zurückhaltung in Richtung
Historie zu halten? Unsere moderne Kultur neigt eher zum Gegenteil und erhebt
einschlägige Disziplinbezeichnungen in den Rang von philosophischen Methoden.
Nietzsche die Genealogie. Foucault die Archäologie. Wobei Foucault seine
metaphorische Verwendung von „Archäologie“ mit einer „falschen“ Etymologie
begründet: er leitet seine Archäologie vom „Archiv“ ab, nennt sie aber nicht
„Archivologie“.
Der Eintrag zum Stichwort Ursache (aition) erinnert
im Duktus, mit der Aufzählung von sehr heterogenen Beispielen, zum Teil sogar
mit selben Beispielen, an den Eintrag zur arche. Auch hier fällt auf,
dass das Bedeutungsspektrum des griechischen Wortes weit über dasjenige des
deutschen Wortes hinausreicht: unter anderem deswegen, weil es auch immanente
Teile, Bestandteile meint. Nicht nur die „Materialursachen“, sondern auch die
„Formursachen“, für die hier gleich drei oder vier fast synonyme Ausdrücke genannt
werden. Und als Beispiel die Ursache „zwei zu eins“ für die Sache „Oktave“.
Also eine mathematische Ursache für eine musikalische Sache. Und der Bereich
der Medizin wird damit erläutert, dass vier verschiedene „Ursachen“ für die
Gesundheit genannt werden. Hier wie auch in der Musik hat die Angabe der
Ursachen sowohl theoretische Bedeutung (Physik) als auch technisch-poietische
(Kunstfertigkeit).
Sodann die Einschärfung von der Bedeutungsvielfalt
des Begriffs „Ursache“. Was uns fremdartig und chaotisch vorkommt, das liegt
zwar zum einen an den sprachlichen Unterschieden, zum anderen ist es
Aristoteles selber aufgefallen, und er tut es weder beschönigen oder abmildern.
Vielmehr erklärt er es zu einer Wesenseigenschaft dieses Begriffs. Die Semantik
des Begriffs ist „wesentlich“ chaotisch und er gerät damit in die Nähe der
Chaotik, die Aristoteles im 4. Buch den Vorsokratikern und Sophisten zum
Vorwurf gemacht hat und eigentlich abwehren wollte. Hier wehrt er sie nicht ab,
indem er sie verbietet oder negiert. Er stellt sie klar, indem er sie
erläutert, bespricht, ausführt – und sogar mit seinem Hauptbegriff des
„Seienden“ parallelisiert, mit dem es ebenso chaotisch bestellt ist: analogia
entis.
Walter Seitter
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Sitzung vom 12. November 2014
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