Wir stellen
die Frage, ob die Beschädigungen oder Verletzungen, die an der Thessalonicher
Aristoteles-Statue angebracht sind, auf biographische oder persönliche Schäden
oder Mängel bei Aristoteles selber hinweisen könnten. Man kann davon ausgehen,
dass diese Statue wohl die einzige skulpturale Aristoteles-Darstellung aus
neuerer Zeit ist, die vom klassischen Statuen-Ideal in großen Zügen wie auch in
einigen krassen Details abweicht. Andere Aristoteles-Standbilder, in
Griechenland oder anderswo, zeigen klassizistisch-starren weißen Marmor.
In seiner
Athener Zeit hatte Aristoteles gravierende Nachteile in Kauf zu nehmen, da er
nicht einheimischer Staatsbürger war. Obwohl Gründer und Leiter einer
angesehenen Lehranstalt konnte er sich da nur als Mieter oder Gast halten.
Eventuell hing schon die Tatsache, dass er nach dem Tod Platons (347) nicht die
Leitung der Akademie übernehmen konnte, mit seinem schwachen politischen Status
zusammen. Vollends dramatisch wurde seine Situation, als er nach dem Tod
Alexanders des Großen (323) um sein Leben fürchten musste – und nach Euboia
auswich, wo er bald starb.
Der Ausdruck
„verstümmelt“ würde sich wohl auf das Werk des Aristoteles anwenden lassen,
wenn man seinen Erhaltungszustand in Betracht zieht - und dabei nicht nur die Poetik
und die Metaphysik in Betracht zieht, sondern vor allem die
Tatsache, dass diejenigen Schriften, die von ihm autoritativ verfasst und
publiziert worden sind, zur Gänze verloren sind. Allerdings sind von
Aristoteles so viele Schriften erhalten, dass diese Verlusttatbestände kaum in
unser Bewusstsein fallen. Anders steht es mit den „Fragmenten“ der
Vorsokratiker – um die sich allerdings eine kultische Aura von Archaik und
Tiefsinn gelegt hat.
Und dann noch
zur Frage, wie sich das Stichwort „verstümmelt“ im Buch V ausnimmt, das ja als
Wörterbuch – Wörterbuch der Metaphysik ? – gilt. Im letzten Protokoll
habe ich dieses Wort zum „zentralen Begriff der Metaphysik“ erklärt.
Zunächst einmal stellt es sich als der marginalste, der niedrigste Begriff in
der Serie der 30 Stichworte dar. Alle übrigen – 29 – Stichworte sind Begriffe
von hoher Allgemeinheit. Das gilt auch für „Quantität“, „Privation“, „Teil“,
„Ganzes“ – mit denen die Verstümmelung in näherer logischer Beziehung steht.
„Verstümmelt“ wird erstens den Quantitäten untergeordnet und zweitens als eine
Sorte von Privation bestimmt. Gerade diese Unterordnungen weisen darauf hin,
dass es sich um einen niedrigen Begriff handelt – tatsächlich um den
niedrigsten in der Reihe der dreißig. Ähnlich niedrige, das heißt konkrete, das
heißt beliebige Bestimmungen kommen in den übrigen Abschnitten zuhauf vor –
aber immer nur als Beispiele, als Differenzierungen für die Stichworte.
Beispiele wie „blind“, „farblos“, „kernlos“, „ungerecht“ – für Privation. Da
sieht man schon, wenn man sieht, dass „verstümmelt“ genau in diese Reihe
hineinpassen würde. Es steht aber nicht in dieser Reihe sondern ist sozusagen
daraus emporgehoben worden und steht nun gleichrangig neben dem Stichwort
„Privation“, obwohl es logisch eine Stufe darunter angesiedelt ist.
Die
Eigenschaft „verstümmelt“ ist also logisch (nicht nur logisch) der niedrigste
Stichwort-Begriff – aber textuell, literarisch, lexikographisch emporgehoben in
die Serie der höheren Begriffe, von denen einige übrigens allerhöchste sind:
logisch allerhöchst: „seiend“, logisch und nicht nur logisch allerhöchst:
„Natur“, sehr hoch auch: „Geschlecht“/„Gattung“.
Das heißt
Aristoteles hat mit „verstümmelt“ eine Sonderaktion durchgeführt, er hat eine
Ausnahme gemacht, sodaß aus dem niedrigsten Begriff der besonderste geworden
(natürlich nicht der höchste). Insofern der „zentrale“.
Wir gehen zum nächsten
Abschnitt über, dessen Stichwort genos sich durch eine interessante
Mehrdeutigkeit auszeichnet, dementsprechend sind die deutschen Übersetzungen
hin- und hergerissen: zwischen „Geschlecht“ und „Gattung“. Das aristotelische
Wort genos wird zumeist mit „Gattung“ übersetzt, weil sich dieser
Begriff in der Logik durchgesetzt hat: als Bezeichnung für eine größere
Allgemeinheit als „Art“.
Davon weicht
aber die Übersetzung von H. Carvallo und E. Grassi (Reinbek 1994) sehr
entschieden ab, indem sie das Wort genos, das ja in der Metaphysik schon
öfter vorgekommen ist, immerzu mit „Geschlecht“ übersetzt, und zwar auch dann,
wenn offensichtlich die logische Bedeutung im Spiel ist und das Wort
„Geschlecht“ total missverständlich erscheint und darüber hinaus bizarr und
abstrus beziehungsweise geradezu sex(ual)istisch, sofern dieses Wort ja auch so
etwas bezeichnet. Die meisten deutschen Übersetzungen, so auch die meinige
(eine wenn man so will „österreichisch-deutsche“) schreiben zumeist „Gattung“
und nur selten, wenn der Kontext es erzwingt, fallweise auch „Geschlecht“, wie
eben in diesem Abschnitt 28.
Die mir
vorliegende englische Übersetzung (bei LOEB) entscheidet sich ebenfalls hier
für eine zweigleisige Übersetzung: für die logische Bedeutung das lateinische
„genus“ und für die andere Bedeutung „race“. Die neuere amerikanische
Übersetzung von Joe Sachs schreibt hingegen einheitlich „kind“ – eine
vermutlich erstmalige „angelsächsische“ Lösung.
In den ersten
Sätzen von Abschnitt 28 verwendet Aristoteles das Wort genos
offensichtlich in der Bedeutung von „Geschlecht“. Und daher zunächst einmal
einige Überlegungen zu diesem deutschen Wort, das selber zwei
Bedeutungsrichtungen aufweist.
Geschlecht 1:
Generationenabfolge, Abstammung, Fortpflanzung – also das Nacheinander im
„Menschengeschlecht“ bzw. in einzelnen z. B. adeligen „Geschlechtern“.
Geschlecht 2:
in diesem Sinn gibt es zwei natürliche oder sexuelle Geschlechter: männlich,
weiblich. Die drei grammatischen Geschlechter (der, die, das) kann man als
abgeleitete Variation bezeichnen. Und neuerdings spricht man sogar bei den
natürlichen menschlichen Geschlechtern von mehr als zwei, wofür jetzt
unterschiedliche neue Bezeichnungen erfunden werden. Um die Natürlichkeit der
zwei menschlichen Geschlechter zu relativieren, hat man im Englischen (und im
Neudeutschen) neben das Wort „sex“ das Wort „gender“ gesetzt.
Und der
Zusammenhang zwischen Geschlecht 1 und Geschlecht 2 liegt darin, dass
Geschlecht 1, d. h. Fortpflanzung, bei den Menschen und bei vielen Tieren und
Pflanzen nur „mit Geschlecht 2“, nur mit dem Miteinander zwischen den beiden
sexuellen Geschlechtern funktioniert.
Im großen und
ganzen und trotz den angedeuteten Sprachtendenzen dominiert heute im Deutschen
„Geschlecht 2“, während „Geschlecht 1“ aus der Mode gekommen ist. Bis zum 18.
Jahrhundert dürfte es vorgeherrscht haben (eine geradezu tautologische
Feststellung, weil mit dieser Bedeutung so etwas wie „Herrschaft“ verbunden
war).
Jetzt aber
noch zum Wort „Gattung“, das in die Logik gehört. Aber wenn man das Wort
anschaut, womöglich anhört, nämlich auf es hört, dann nimmt man wahr, dass es
mit den „Gatten“ verwandt ist. Auch das Wort „Gattung“ stammt aus dem
semantischen Feld der Biologie. Auch es bezeichnet eine biologische Verbindung
zwischen Menschen, aber nicht nur im Nacheinander, sondern auch im Neben- und
Miteinander: Verwandtschaft. Und die „Gatten“ entsprechen genau der Zweizahl,
die das Geschlecht 2 kennzeichnet: Mann und Frau.
In den ersten
Sätzen von Abschnitt 28 also hat das Wort genos nur die Bedeutung von
Geschlecht 1. Allerdings zunächst mit einer gewissen Verallgemeinerung über das
Nur-Menschliche hinaus: „kontinuierliche Entstehung der (Dinge), die dieselbe
Form (Art) haben“. (1024a 29) Wobei für „Entstehung“ genesis steht –
also dazugehörige sis-Wort, das einen Vorgang oder eine Tätigkeit bezeichnet,
und die Tätigkeit heißt im Deutschen „Fortpflanzung“, „Zeugung“. Einzelne
Geschlechter bzw. Stämme oder Völker werden nach den Stammvätern benannt, oder
auch nach den Stammmüttern, wofür Aristoteles einige Beispiele aus der
griechischen Geographie und Sagenwelt nennt. Er wundert sich selber darüber, da
nach seiner Auffassung die Zeugung als Übertragung der Menschenform nur vom
Vater geleistet wird, die Mutter liefere lediglich den Stoff. Zeugung und
Gebärung seien die unterschiedlichen Fortpflanzungsleistungen von Mann und
Frau. Aber das Wort genos hat bei Aristoteles nur die Bedeutung von
Geschlecht 1.
Und dann eben
noch die logische Bedeutung „Gattung“. Aristoteles nennt Beispiele aus der
Geometrie: die Gattung der Fläche umfasst verschiedene Arten von Flächen, die
Gattung der Körper umfasst verschiedene Arten von Körpern; formal kann die
Gattung definiert werden als erster Bestandteil einer Definition oder als
Substrat für die Unterschiede. Die scholastische Zusammenfassung lautet: definitio
fit per genus et differentias specificas.
Walter Seitter
Sitzung vom 4. Mai 2016
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