Die Salzburger
Schriftstellerin Dorothea Macheiner teilt mir nach der Lektüre des letzten
Protokolls ihre Vermutung mit, der Begriff „verstümmelt“ habe bei ihr die
Assoziation mit dem Wort „stumm“ ausgelöst sowie mit dem Gedanken, dass Körperglieder
auch sprechen und dass verstümmelte Körperglieder – also „Stummel“ – erst recht
sprechen, nämlich sprechen wollen, toben, eben weil sie nicht mehr sprechen
können. Dazu ihre Erinnerung an ein Wort im österreichischen Dialekt: ein
„Stummerl“ ist jemand, der nichts sagt, nicht redet.
Einen
etymologischen Zusammenhang zwischen „verstümmelt“ und „stumm“ scheint es
indessen nicht zu geben. Und das aristotelische Wort kolobos hat auch
keine Beziehung mit dem Wort für „stumm“.
Zur
Aristoteles-Statue auf dem Aristoteles-Platz schreibt mir Omiros Tachmazidis,
mein Übersetzer, dass sie im Jahre 1990, also vor ungefähr 25 Jahren geschaffen
worden ist: von Giorgos Georgiades (*1937). Und er schickt mir einen
ausführlichen Artikel über Aristoteles-Darstellungen in der neugriechischen
Kunst, verfasst von Gerakina Mylona. Da wird auch diese Statue erwähnt und
beschrieben. Der Kopf sei der bekannten Wiener Büste nachgebildet (die ich
schon öfter erwähnt habe). Der Bildhauer habe den tradierten Typ mit einigen
neueren Linien kombiniert: so die schiefen Füße, aber auch die kakoseis =
Spuren von Misshandlungen, eigentlich Verunstaltungen, Verschlimmerungen. Nur
mit diesem einen Wort spielt die Verfasserin auf die von mir gesehenen
„Verletzungen“ an – ohne sich irgendwelche Fragen dazu zu stellen. Sie hat ihre
Erwähnung offensichtlich bald nach 1990 geschrieben und hinzugefügt: die
definitiven Kritiken seien noch nicht geschrieben worden. Sie bescheidet sich
also sehr und tut so, als würde sie von diesem Bildhauer gar nichts wissen.
Ich hingegen
weiß schon ein bisschen mehr als nichts. Die Suche im Internet hat unter dem
Namen Giorgos Georgiades nur einen Fußballer ergeben und keinen Bildhauer. Dann
aber ein Bericht von einer Berliner (!) Ausstellung im Jahr 1985, wo von diesem
Bildhauer ein Torso in verschiedenen Variationen zu den Themen
"Einsamkeit", "Gemeinsamkeit" und "Siegesfreude"
gezeigt worden ist. Die Abbildung zeigt in der grausamen „Hautbehandlung“
deutliche Ähnlichkeiten mit der Thessalonicher Statue (und zwar unabhängig vom
Motiv „Torso“ – das ja eine gewisse semantische Nähe zur Verstümmelung
aufweist). Im Internet sind auch andere Werke zu sehen: alle figural und
tendenziell gespenstisch. Der Künstler ist bis heute sehr aktiv, jedenfalls mit
Ausstellungen und Publikationen. Die Aristoteles-Statue hingegen wird nirgendwo
mit seinem Namen verbunden.
Wir sprechen
dann noch über meine These, die Metaphysik komme aufgrund der
Heterogenität ihrer „Bücher“ – jedenfalls von I bis VI – in die Nähe einer
Verstümmeltheit. Dieser Charakter kommt ihr nicht so eindeutig zu wie der Poetik.
Zwei Bücher, nämlich III und V, weichen von der hauptsächlichen
aristotelischen Textform – pragmateia oder Abhandlung – stark ab und
verlegen sich auf die Textform der Liste, der Serie. Buch III: Serie von
„Aporien“ oder ungelösten Fragen wissenschaftstheoretischer oder annähernd
ontologischer Natur. Diese 15 Aporien werden zunächst nur genannt und dann
relativ kurz behandelt – das heißt sie werden gleich zweimal aufgelistet oder
serialisiert. Und das Ergebnis sieht nicht so aus, dass damit die hier
„gesuchte Wissenschaft“ auf erhellende Weise vorgestellt worden ist. Auch das
Buch V ist seriell aufgebaut: 30 Begriffe werden ziemlich gleichförmig in viele
Bedeutungen zerlegt, womit eine große Menge an Information geliefert wird. Die
Frage ist, ob die Behandlung dieser vielen Begriffe einer bestimmten
Wissenschaft zugeordnet werden kann. Die Serie beginnt eindeutig mit Begriffen
aus der Physik, es kommen dann einige Grundbegriffe der Ontologie und es geht
sehr kunterbunt weiter bis zu einem solchen Begriff wie „verstümmelt“, der
bislang gar nicht gewusst hat, dass er ein Begriff ist – und ein Begriff aus
welcher Wissenschaft?
Gianluigi
Segalerba bestätigt, dass der Begriff „verstümmelt“ von den ihm bekannten
Kommentatoren der Metaphysik kaum oder gar nicht beachtet worden ist.
Ich aber erkläre hiermit – aus purem Übermut – diesen Begriff für einen sehr
wichtigen Begriff - ja für den zentralen Begriff der Metaphysik. Es
handelt sich jedenfalls um einen dramatischen, um einen existenziellen Begriff.
Ein Begriff aus der Nachbarschaft der „Zerstörung“, die genau an der Stelle der
erstmaligen ausdrücklichen Erfindung der Ontologie, in 1003b 7, zusammen mit
anderen Seinsmodalitäten genannt worden ist. Die beiden ersten Abschnitte von
Buch IV führen die Ontologie ein und beenden die Vorherrschaft des Begriffs
„Ursache“, welche den Aristoteles auf weite Strecken unverständlich und
unlesbar gemacht hat. Der Begriff „verstümmelt“ impliziert natürlich auch
Ursachen, aber zunächst bezeichnet er etwas auf der Ebene von Eigenschaften,
von Zuständen, von Schicksalen. Er impliziert direkt so etwas wie Aggression,
Grausamkeit. Wenn man das alles für unwichtig hält, und nur die ousia für
wichtig ...
Nur wenn einem
etwas „auffällt“ – nur dann sieht man etwas. Und wenn man die Verstümmeltheit –
geleitet durch die aristotelische Einführung des Begriffs – sieht, dann bekommt
man einen anderen Blick auf die Welt und gleichzeitig lernt man, dass man die ousia
brauchen kann, um die Verstümmelung begrifflich einzugrenzen.
Überhaupt sind
die Kategorien nur wichtig, weil sie dazu dienen, Erscheinungen,
Auffälligkeiten, Differenzen zu ordnen. Dazu aber muß man die Sichtbaren sehen
und die Hörbaren hören und die Fühlbaren fühlen – sonst gibt es nichts zu
ordnen. Die Ordnungsbegriffe allein – nun ja die kann man untereinander auch
ordnen, das ist auch interessant. Vor allem weil man da wieder ins Chaotische
gerät, das nach neuerlicher Ordnung ruft. Ist die zweite Substanz nicht auch
eine Qualität – ja; aber die Qualität ist doch ein Akzidens. Ist etwa gar die
zweite Substanz ein Akzidens – weil sie der ersten Substanz zukommt?
Inhaltlich
gehört der Begriff „verstümmelt“ in die Menschenwelt und so bestätigt er die
Vermutung, dass die sogenannte Metaphysik eine Kurve ins
Anthropologische nimmt. Ich habe ihn ja schon einmal etymologisch mit
„nachnatürlich“ übersetzt: er steht an der Kippe zwischen Physik und
Machenschaften (wie Heidegger sagen würde).
Walter Seitter
Sitzung vom 27. April 2016
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