τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 14. April 2016

In der Metaphysik lesen (Zur Substanz III)

Der Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie heißt ousia und der wurde in den Kategorien mit der Unterscheidung zwischen „erster Substanz“ und „zweiter Substanz“ erklärt – einigermaßen ausführlich und umständlich, aber nicht so, dass es in den folgenden Jahrtausenden zu einem angemessenen Verständnis des Begriffes kam. Die lateinische Übersetzung mit substantia hat das Missliche, dass sie von einem ganz anderen griechischen Wort, nämlich hypostasis, ausgeht, während die Übersetzung mit essentia, die dem griechischen Wort ousia nähersteht, bedeutungsmäßig nur der „zweiten Substanz“ entspricht.

In der Physik, in De anima, in der Poetik wird die ousia in bestimmte Realitätsbereiche hinein konkretisiert, in De anima wird auch ihre Positionierung erläutert, wobei die Begriffe „Körper“ und „Seele“ herangezogen werden.

In der vielleicht später entstandenen Schrift Metaphysik wird die ousia wieder mit anderen Seinsmodalitäten zusammen genannt, und zwar im Buch IV (1003b 7ff.), und ihre Vorrangstellung bestätigt. Im Buch V, also im Wörterbuch, wird der ousia nur einer der dreißig Abschnitte eingeräumt, der Abschnitt 8. Dort werden ihr „zwei Versionen“ zugesprochen, also eine doppelte Begriffsverwendung, sozusagen ein homonymer Charakter, aber die beiden Applikationen werden mit den eher umgangssprachlichen Begriffen „Körper“ und „Seele“ benannt.

Die erste Substanz, ein konkret existierendes Ganzes, wird mit „Körper“ identifiziert, die „zweite Substanz“, der Teilaspekt des Was, der Was-Faktor, mit „Seele“. Die beiden unterscheiden sich also wie Ganzes und Teil. Aber beiden wird derselbe ontologische Begriff zugeordnet. Warum? Man könnte sagen, weil sie beide gleich wichtig sind. Der Teil ist in diesem Fall genauso wichtig wie das Ganze. Es handelt sich um ein sehr eigentümliches Verhältnis. Zwei unterscheidbare Größen sind untrennbar miteinander zusammengeschaltet oder zusammengewachsen.

Die Assoziation mit „Körper“ und „Seele“, die mit dieser Klarheit vielleicht nur an dieser Stelle durchgeführt wird, hat den Vorteil, dass sie die Lebewesen, die ohnehin die durchschnittlichen Protagonisten des Substanz-Begriffs sind, in den Vordergrund rücken. Sie führt allerdings zur seltsamen Konsequenz, dass der Körper jetzt für das Ganze steht, der Körper ist jetzt das Zusammengesetzte – natürlich der belebte, der beseelte Körper. Und wie schon einmal betont: Körper gibt es nur mit Seele oder mit einer Art Seele, nämlich mit Formursache. Ohne eine solche wäre da nur bloßer Stoff, d. h. nichts.

Wenn die Lebewesen die durchschnittlichen Protagonisten der Substanz sind, dann sind die Menschen, die noch etwas höheren Inhaber des Titels „Substanz“. Das heißt: „Substanz“ ist auch ein anthropologischer Begriff. Das Anthropologische am Begriff kann man heraussagen. Ich tue es mit der Formulierung:

Man ist Substanz und hat Substanz. Man ist ein Wesen und hat ein Wesen. Man ist Körper, man hat Seele.

Ich habe Körper, ich habe Seele.

Das Anthropologische aus dem Substanz-Begriff heraussagen, das ist bisher fast nie geschehen. Deshalb ist der Substanz-Begriff bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so stumpf, so blind, so formalistisch geblieben. Immerhin kam dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts die „zoologische oder biologische Wende“. Jetzt ist es Zeit für die „anthropologische Wende“. Die bei Aristoteles sehr wohl angelegt ist, wenn er Sokrates, wenn er Kallias, wenn er das Du mit der ersten Substanz direkt identifiziert – und ihnen die zweite Substanz zu-sagt.

Wohlgemerkt, diese ganz spezielle Verwendung des Körper-Begriffs, die behaupte ich nur für den Abschnitt 8. Aber anscheinend hat man den bisher nur wenig beachtet. Er enthält eine bizarre Konstruktion – die ich in die obigen Man- und Ich-Sätze übersetzt habe. Aber das Bizarre kann ja etwas zum Ausdruck bringen, was stimmt. In dem Fall heißt „stimmt“: mit Aristoteles übereinstimmt.

Die zweite Substanz oder die Seele ist mit dem Fragepronomen „was“ assoziiert. Und die erste Substanz, für die ich „man“ oder „ich“ einsetze? Mit dem Fragepronomen „wer“ – das auch bei Aristoteles öfter auf dieser Ebene eingesetzt wird. Während das Was zum grammatischen dritten Geschlecht, dem asexuellen, gehört, enthält das Wer die beiden sexuellen Geschlechter: der oder die. Damit ist die Bahn von den Tieren zu den Personen schon eröffnet.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in Deutschland von Scheler, Plessner, Gehlen die Philosophische Anthropologie begründet. Heidegger stand dieser Bewegung sachlich nahe, legte aber Wert darauf, sich zur „Ontologie“ zu erheben. Als 1935 der katholische Philosoph Theodor Haecker ein Buch mit dem Titel Was ist der Mensch? publizierte, reagierte Heidegger höhnisch mit der Forderung: wenn schon dann „Wer ist der Mensch“!


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 13. April 2016

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen