Der
Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie heißt ousia und der wurde in
den Kategorien mit der Unterscheidung zwischen „erster Substanz“ und
„zweiter Substanz“ erklärt – einigermaßen ausführlich und umständlich, aber
nicht so, dass es in den folgenden Jahrtausenden zu einem angemessenen
Verständnis des Begriffes kam. Die lateinische Übersetzung mit substantia hat
das Missliche, dass sie von einem ganz anderen griechischen Wort, nämlich
hypostasis, ausgeht, während die Übersetzung mit essentia, die dem
griechischen Wort ousia nähersteht, bedeutungsmäßig nur der „zweiten
Substanz“ entspricht.
In der Physik,
in De anima, in der Poetik wird die ousia in bestimmte
Realitätsbereiche hinein konkretisiert, in De anima wird auch ihre
Positionierung erläutert, wobei die Begriffe „Körper“ und „Seele“ herangezogen
werden.
In der
vielleicht später entstandenen Schrift Metaphysik wird die ousia
wieder mit anderen Seinsmodalitäten zusammen genannt, und zwar im Buch IV
(1003b 7ff.), und ihre Vorrangstellung bestätigt. Im Buch V, also im Wörterbuch,
wird der ousia nur einer der dreißig Abschnitte eingeräumt, der
Abschnitt 8. Dort werden ihr „zwei Versionen“ zugesprochen, also eine doppelte
Begriffsverwendung, sozusagen ein homonymer Charakter, aber die beiden
Applikationen werden mit den eher umgangssprachlichen Begriffen „Körper“ und
„Seele“ benannt.
Die erste
Substanz, ein konkret existierendes Ganzes, wird mit „Körper“ identifiziert,
die „zweite Substanz“, der Teilaspekt des Was, der Was-Faktor, mit „Seele“. Die
beiden unterscheiden sich also wie Ganzes und Teil. Aber beiden wird derselbe
ontologische Begriff zugeordnet. Warum? Man könnte sagen, weil sie beide gleich
wichtig sind. Der Teil ist in diesem Fall genauso wichtig wie das Ganze. Es
handelt sich um ein sehr eigentümliches Verhältnis. Zwei unterscheidbare Größen
sind untrennbar miteinander zusammengeschaltet oder zusammengewachsen.
Die
Assoziation mit „Körper“ und „Seele“, die mit dieser Klarheit vielleicht nur an
dieser Stelle durchgeführt wird, hat den Vorteil, dass sie die Lebewesen, die
ohnehin die durchschnittlichen Protagonisten des Substanz-Begriffs sind, in den
Vordergrund rücken. Sie führt allerdings zur seltsamen Konsequenz, dass der
Körper jetzt für das Ganze steht, der Körper ist jetzt das Zusammengesetzte –
natürlich der belebte, der beseelte Körper. Und wie schon einmal betont: Körper
gibt es nur mit Seele oder mit einer Art Seele, nämlich mit Formursache. Ohne
eine solche wäre da nur bloßer Stoff, d. h. nichts.
Wenn die
Lebewesen die durchschnittlichen Protagonisten der Substanz sind, dann sind die
Menschen, die noch etwas höheren Inhaber des Titels „Substanz“. Das heißt: „Substanz“
ist auch ein anthropologischer Begriff. Das Anthropologische am Begriff kann
man heraussagen. Ich tue es mit der Formulierung:
Man ist
Substanz und hat Substanz. Man ist ein Wesen und hat ein Wesen. Man ist Körper,
man hat Seele.
Ich habe
Körper, ich habe Seele.
Das Anthropologische
aus dem Substanz-Begriff heraussagen, das ist bisher fast nie geschehen.
Deshalb ist der Substanz-Begriff bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so
stumpf, so blind, so formalistisch geblieben. Immerhin kam dann gegen Ende des
20. Jahrhunderts die „zoologische oder biologische Wende“. Jetzt ist es Zeit
für die „anthropologische Wende“. Die bei Aristoteles sehr wohl angelegt ist,
wenn er Sokrates, wenn er Kallias, wenn er das Du mit der ersten Substanz
direkt identifiziert – und ihnen die zweite Substanz zu-sagt.
Wohlgemerkt,
diese ganz spezielle Verwendung des Körper-Begriffs, die behaupte ich nur für
den Abschnitt 8. Aber anscheinend hat man den bisher nur wenig beachtet. Er
enthält eine bizarre Konstruktion – die ich in die obigen Man- und Ich-Sätze
übersetzt habe. Aber das Bizarre kann ja etwas zum Ausdruck bringen, was
stimmt. In dem Fall heißt „stimmt“: mit Aristoteles übereinstimmt.
Die zweite
Substanz oder die Seele ist mit dem Fragepronomen „was“ assoziiert. Und die
erste Substanz, für die ich „man“ oder „ich“ einsetze? Mit dem Fragepronomen
„wer“ – das auch bei Aristoteles öfter auf dieser Ebene eingesetzt wird.
Während das Was zum grammatischen dritten Geschlecht, dem asexuellen, gehört,
enthält das Wer die beiden sexuellen Geschlechter: der oder die. Damit ist die
Bahn von den Tieren zu den Personen schon eröffnet.
In der ersten
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in Deutschland von Scheler, Plessner,
Gehlen die Philosophische Anthropologie begründet. Heidegger stand dieser Bewegung
sachlich nahe, legte aber Wert darauf, sich zur „Ontologie“ zu erheben. Als
1935 der katholische Philosoph Theodor Haecker ein Buch mit dem Titel Was
ist der Mensch? publizierte, reagierte Heidegger höhnisch mit der
Forderung: wenn schon dann „Wer ist der Mensch“!
Walter Seitter
Sitzung vom 13. April 2016
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