Wir werfen die
Frage auf, ob die Seele, welche dem Menschen seine Wesensqualität liefert, nur
bis zur Artbestimmtheit reicht, was heißen würde, jeder Mensch hat die ganz
gleiche Menschen-Seele. Und alle weiteren Bestimmtheiten, welche die Menschen
näher und bis zu ihrer Individualität qualifizieren, also Geschlecht, ethnische
Anlagen, charakterliche Anlagen, wären akzidenzielle Hinzufügungen. Gemäß
dieser Ansicht müssten sich zwar auch diese Hinzufügungen in der Seele
niederschlagen. Die Seele würde sich dann gewissermaßen teilen zwischen einem
Wesensteil und den kontingenten Zusätzen.
Diese
Auffassung würde sich vielleicht mit der modernen Auffassung gut vertragen,
wonach die Geschlechtszugehörigkeit und erst recht die übrigen individuellen
Eigenschaften auf soziale, historische (biographische) Einwirkungen (aber auch
Eigenleistungen) zurückzuführen sind. Mit anderen Worten: die Lehre von den
Akzidenzien mildert den aristotelischen „Naturalismus“ und schafft Raum für die
Kontingenz anderer Faktoren. Der ethische Charakter wird durch oft wiederholte
Handlungen geschaffen, die sich zur Gewohnheit verfestigen.
„Seele“ heißt
die Formursache, die einen Körper zu einem lebendigen, also zu einem Lebewesen
macht. Doch müssen alle Körper eine Formursache haben, sonst wären sie keine
Körper, sondern sie würden sich – theoretisch – auf einen „ersten Stoff“
reduzieren, der unwahrnehmbar, unerkennbar, unwirklich wäre.
Was geschieht,
wenn ein Mensch stirbt? Es bleibt der Leichnam, zweifellos ein Körper, der noch
dazu eine Zeit lang, das Aussehen, die „Form“ des Menschen bewahrt. Doch die
„Formursache“, die den Menschen zu einem Menschen gemacht hat, ist nicht mehr
da. Sie ist plötzlich auf eine niedrigere Formursache geschrumpft, welche noch
für kurze Zeit das Aussehen des Menschen aufrechterhält, für längere Zeit noch
einen Ex-Organismus aufrechterhält, der sich allmählich in irgendwelche
organische Substanzen zersetzt, um schließlich in andere Körper wie Würmer,
Erde oder dergleichen überzugehen. Lauter Körper mit irgendwelchen
Formursachen.
Der Leichnam
selber ist kein Mensch mehr, sondern nur noch ein Abbild oder Simulakrum. „Das
erste Bild eines Menschen“ (Thomas Macho). Wenn es sich um einen Johann Maier
handelt, dann war er gestern, als er noch lebte, ein Mensch. Heute liegt er auf
der Bahre und wir sagen immer noch „Johann Maier“ dazu. Doch damit ist dieser
Name zu einem Homonym geworden: er bezeichnet in der Distanz von zwei Tagen
zwei ganz verschiedene Dinge: einen Menschen und ein Menschen-Abbild.
Das führt mich
zum allerersten Satz, den Aristoteles geschrieben hat, sagen wir zum frühesten
Satz innerhalb seiner überlieferten Schriften, nämlich zum ersten Satz der Kategorien,
der mit der Bekker-Zählung 1a beginnt und dem meines Erachtens die Übersetzung
von Ingo W. Rath in der Reclam-Ausgabe nicht ganz gerecht wird. Meine
Übersetzung: „Homonym(e) werden die Dinge genannt, die nur den Namen gemeinsam
haben, aber deren Namensbegriff in Bezug auf das Wesen ein je anderer ist: so
wird sowohl der Mensch wie auch die Zeichnung „zoon“ genannt.“ Das
griechische Wort zoon bedeutet nämlich sowohl Lebewesen wie Gemälde,
Bild. Andersherum könnte man das Wort zoon ein Homonym nennen: denn es
bezeichnet zwei ganz verschiedene, ja gattungsmäßig weit auseinanderliegende
Dinge. Ungefähr so wie unser deutsches Wort „Hahn“ ein bestimmtes Lebewesen
bezeichnet und ein Wasserversorgungsgerät.
Ein lebender
Mensch und ein gezeichneter Mensch wären laut Platon nur zwei verschiedene
„Stufen“ von Mensch: die mittlere Stufe und eine unterste Stufe, während der
höchste Mensch derjenige im Reich der Idee wäre.
René Magritte
hingegen mit seinem „Ceci n’est pas une pipe“: ein dezidierter Aristoteliker.
Und ebenso sein Schüler Foucault ....
Nach diesen
vielen Wiederholungen in Sachen Substanzen nun endlich zum Abschnitt 27 mit dem
Stichwort „Verstümmelt“. In gewissem Sinn der Höhepunkt der bisherigen
Metaphysik-Lektüre (Buch I bis V). Die bloße Tatsache, dass so eine banale
Eigenschaft aus dem beschädigten Leben einen gleichen Rang einnimmt wie der
„Anfang“, das „Wesen“, die „Gattung“, zeigt, dass dieses Buch, insonderheit das
Buch V, sich weit von den Ansprüchen entfernt, die jemals mit „Metaphysik“
verbunden worden sind. Oder ist die Beschädigung ein meta gegenüber dem
Natürlichen? Dann hätte das meta noch eine Bedeutung gewonnen.
Die
Eigenschaft „verstümmelt“ wird unter dem Akzidens Quantität subsumiert, die im
Abschnitt 13 behandelt worden ist. So gerät sie auch ontologisch in den Rang,
in den sie dank ihrer lebensweltlichen „Qualität“ ohnehin schon gefallen ist.
Es folgen einige diffizile aber nachvollziehbare Unterscheidungen, die ihr
ihren Platz genau anweisen. Diese Eigenschaft verdankt sich einer Privation
(auch der wird sie untergeordnet), die das Wesentliche einer Sache denn doch
verschont hat. Ein durchbohrter Becher hingegen ist nicht verstümmelt, sondern
er hat seine Wesensqualität verloren. Die liegt nicht in seinem Umriß, wenn man
ihn von der Seite anschaut, also nicht bloß in der Becherform. Die
Wesensqualität liegt in der Formursache, die etwas zu einem Becher macht, und
die liegt vor allem in seinem Funktionieren-Können, in seiner Funktionalität.
Und die geht in Richtung „Seele“.
Formursache ≈
Zweite Substanz ≈ Funktionalität ≈ Seele
Soviel zur
„modernen“ Ersetzung von Substanz durch Funktion.
Walter Seitter
Sitzung vom 6. April 2016
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