τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 7. April 2016

In der Metaphysik lesen (1024a 10-26)


Wir werfen die Frage auf, ob die Seele, welche dem Menschen seine Wesensqualität liefert, nur bis zur Artbestimmtheit reicht, was heißen würde, jeder Mensch hat die ganz gleiche Menschen-Seele. Und alle weiteren Bestimmtheiten, welche die Menschen näher und bis zu ihrer Individualität qualifizieren, also Geschlecht, ethnische Anlagen, charakterliche Anlagen, wären akzidenzielle Hinzufügungen. Gemäß dieser Ansicht müssten sich zwar auch diese Hinzufügungen in der Seele niederschlagen. Die Seele würde sich dann gewissermaßen teilen zwischen einem Wesensteil und den kontingenten Zusätzen.

Diese Auffassung würde sich vielleicht mit der modernen Auffassung gut vertragen, wonach die Geschlechtszugehörigkeit und erst recht die übrigen individuellen Eigenschaften auf soziale, historische (biographische) Einwirkungen (aber auch Eigenleistungen) zurückzuführen sind. Mit anderen Worten: die Lehre von den Akzidenzien mildert den aristotelischen „Naturalismus“ und schafft Raum für die Kontingenz anderer Faktoren. Der ethische Charakter wird durch oft wiederholte Handlungen geschaffen, die sich zur Gewohnheit verfestigen.

„Seele“ heißt die Formursache, die einen Körper zu einem lebendigen, also zu einem Lebewesen macht. Doch müssen alle Körper eine Formursache haben, sonst wären sie keine Körper, sondern sie würden sich – theoretisch – auf einen „ersten Stoff“ reduzieren, der unwahrnehmbar, unerkennbar, unwirklich wäre.

Was geschieht, wenn ein Mensch stirbt? Es bleibt der Leichnam, zweifellos ein Körper, der noch dazu eine Zeit lang, das Aussehen, die „Form“ des Menschen bewahrt. Doch die „Formursache“, die den Menschen zu einem Menschen gemacht hat, ist nicht mehr da. Sie ist plötzlich auf eine niedrigere Formursache geschrumpft, welche noch für kurze Zeit das Aussehen des Menschen aufrechterhält, für längere Zeit noch einen Ex-Organismus aufrechterhält, der sich allmählich in irgendwelche organische Substanzen zersetzt, um schließlich in andere Körper wie Würmer, Erde oder dergleichen überzugehen. Lauter Körper mit irgendwelchen Formursachen.

Der Leichnam selber ist kein Mensch mehr, sondern nur noch ein Abbild oder Simulakrum. „Das erste Bild eines Menschen“ (Thomas Macho). Wenn es sich um einen Johann Maier handelt, dann war er gestern, als er noch lebte, ein Mensch. Heute liegt er auf der Bahre und wir sagen immer noch „Johann Maier“ dazu. Doch damit ist dieser Name zu einem Homonym geworden: er bezeichnet in der Distanz von zwei Tagen zwei ganz verschiedene Dinge: einen Menschen und ein Menschen-Abbild.

Das führt mich zum allerersten Satz, den Aristoteles geschrieben hat, sagen wir zum frühesten Satz innerhalb seiner überlieferten Schriften, nämlich zum ersten Satz der Kategorien, der mit der Bekker-Zählung 1a beginnt und dem meines Erachtens die Übersetzung von Ingo W. Rath in der Reclam-Ausgabe nicht ganz gerecht wird. Meine Übersetzung: „Homonym(e) werden die Dinge genannt, die nur den Namen gemeinsam haben, aber deren Namensbegriff in Bezug auf das Wesen ein je anderer ist: so wird sowohl der Mensch wie auch die Zeichnung „zoon“ genannt.“ Das griechische Wort zoon bedeutet nämlich sowohl Lebewesen wie Gemälde, Bild. Andersherum könnte man das Wort zoon ein Homonym nennen: denn es bezeichnet zwei ganz verschiedene, ja gattungsmäßig weit auseinanderliegende Dinge. Ungefähr so wie unser deutsches Wort „Hahn“ ein bestimmtes Lebewesen bezeichnet und ein Wasserversorgungsgerät.

Ein lebender Mensch und ein gezeichneter Mensch wären laut Platon nur zwei verschiedene „Stufen“ von Mensch: die mittlere Stufe und eine unterste Stufe, während der höchste Mensch derjenige im Reich der Idee wäre.

René Magritte hingegen mit seinem „Ceci n’est pas une pipe“: ein dezidierter Aristoteliker. Und ebenso sein Schüler Foucault ....

Nach diesen vielen Wiederholungen in Sachen Substanzen nun endlich zum Abschnitt 27 mit dem Stichwort „Verstümmelt“. In gewissem Sinn der Höhepunkt der bisherigen Metaphysik-Lektüre (Buch I bis V). Die bloße Tatsache, dass so eine banale Eigenschaft aus dem beschädigten Leben einen gleichen Rang einnimmt wie der „Anfang“, das „Wesen“, die „Gattung“, zeigt, dass dieses Buch, insonderheit das Buch V, sich weit von den Ansprüchen entfernt, die jemals mit „Metaphysik“ verbunden worden sind. Oder ist die Beschädigung ein meta gegenüber dem Natürlichen? Dann hätte das meta noch eine Bedeutung gewonnen.

Die Eigenschaft „verstümmelt“ wird unter dem Akzidens Quantität subsumiert, die im Abschnitt 13 behandelt worden ist. So gerät sie auch ontologisch in den Rang, in den sie dank ihrer lebensweltlichen „Qualität“ ohnehin schon gefallen ist. Es folgen einige diffizile aber nachvollziehbare Unterscheidungen, die ihr ihren Platz genau anweisen. Diese Eigenschaft verdankt sich einer Privation (auch der wird sie untergeordnet), die das Wesentliche einer Sache denn doch verschont hat. Ein durchbohrter Becher hingegen ist nicht verstümmelt, sondern er hat seine Wesensqualität verloren. Die liegt nicht in seinem Umriß, wenn man ihn von der Seite anschaut, also nicht bloß in der Becherform. Die Wesensqualität liegt in der Formursache, die etwas zu einem Becher macht, und die liegt vor allem in seinem Funktionieren-Können, in seiner Funktionalität. Und die geht in Richtung „Seele“.

Formursache ≈ Zweite Substanz ≈ Funktionalität ≈ Seele

Soviel zur „modernen“ Ersetzung von Substanz durch Funktion.


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 6. April 2016

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