Man kann von
Avantgarden der Aristoteles-Interpretation sprechen, wenn es Vorstöße gibt, die
Neuland betreten, und ein solcher scheint mir in der „zoologischen oder
biologischen Wende“ zu liegen, welche die Tiere als Protagonisten des
Substanzbegriffs namhaft gemacht hat, und jetzt dürfte die Zeit reif sein für
ein „anthropologische Wende“, die auch die Menschen, also „uns“, also auch die
Philosophierenden oder die Aristoteles-Leser, zur Füllung des Begriffs
„Substanz“ heranzieht. Substanzen, die „ich“ sagen.
Vor kurzem
stieß ich in Met. I, 1, 981b 19 auf den – bereits gelesenen – Satz, dass es für
Kallias oder Sokrates ein Akzidens bedeute, ein Mensch zu sein. Mich
verblüffte, dass hier anscheinend das Mensch-Sein, also die zweite Substanz,
einem Individuum, also der ersten Substanz, wie ein Akzidens zugeschrieben
wird. Womit der ontologische Gegensatz zwischen Substanz und Akzidens, auch der
Primat der Substanz vor dem Akzidens, aufgehoben zu sein scheint. Gianluigi
Segalerba teilte mir dann mit, dass Aristoteles nicht direkt „Akzidens“
schreibt, sondern: es falle dem Kallias zu, Mensch zu sein. Aristoteles
verwendet die finite Form des Perfekts, mit dessen Partizip sonst das Akzidens
bezeichnet wird. Er spielt also mit dem Terminus so, dass die Substanz fast zum
Akzidens wird. Er reißt erste Substanz und zweite Substanz weit auseinander und
suggeriert eine Spaltung innerhalb der Substanz – obwohl diese ja gerade die
Einheitlichkeit garantieren soll.
Wenn einem so
ein Satz auffällt, wenn man sich an ihm stößt und dann darüber nachdenkt, dann
beginnt die Lektüre interessant zu werden und diese beginnt, den
Eigenwilligkeiten des Autors auf die Spur zu kommen.
Ich äußere die
Vermutung, dass sich im Buch V die Eigenwilligkeiten des Aristoteles häufen und
dieses Buch bisher eher auf Geringschätzung gestoßen ist, welche Vermutung von
Segalerba bestätigt wird. Schon die Anlage des Buches, die dreißig zumeist
kurzen Abschnitte, die jeweils einem Begriff gewidmet sind, der jeweils nach
ähnlichem Schema in viele Bedeutungen zerlegt wird, auch die Reihenfolge, die
von arche bis symbebekos reicht, die kurze Abhandlung des
Begriffs ousia und seine Differenzierung in Körper und Seele – alle
diese Eigentümlichkeiten scheinen die traditionellen Aristoteles-Leser
abgehalten zu haben.
So bietet sich
uns eine Avantgarde-Chance in Sachen Aristoteles-Lektüre, wenn wir ausgerechnet
dieses Buch V ernst nehmen (Jacques Lacan hat, worauf ich am 11. November 2011
hingewiesen habe, empfohlen, die ganze Metaphysik gerade deswegen
ernstzunehmen, weil sie so unernst daherkomme). Die Zweiteilung des
Substanz-Begriffs in Körper und Seele haben wir in diesem Sinn besprochen, und
die Verbindung dieses Körper-Begriffs mit der erwähnten Anthropologisierung
haben wir auf die in der neuesten Philosophie ausgebrochene „Körper-Mode“
(Merleau-Ponty, Foucault, Nancy) bezogen, die immerhin durch Deleuze, Guattari,
Latour aus der anthropologischen Verengung wieder herausgeführt wird. Bei
Aristoteles steht das Anthropologische ohnehin immer in der Konstellation des
Kosmos.
Dann kehren
wir endlich wieder zum Abschnitt 27 zurück, zum Adjektiv „verstümmelt“. Wieso
kommt so ein Adjektiv in die Position eines Begriffes, der neben „Seiendes“,
„Wesen“, „Natur“ und so weiter im Wörterbuch der Metaphysik figuriert?
Das Wort „verstümmelt“ stammt aus der Welt des Schlachtfeldes, der
Krankenpflege oder der Verachtung. Was ist daran „metaphysisch“? Da war einmal
ein gesunder Körper, dann wurde er beschädigt und in seiner Beschädigtheit
erhalten: ein nachnatürlicher Körper – also ein „metaphysischer“ in diesem
wörtlichen Sinn.
Aristoteles
geht überhaupt nicht von der Dramatik aus, die dem Wort eingeschrieben ist,
sondern von Quanten, Zahlen, Ganzen, Teilen, und fragt, was unter welchen
Umständen verstümmelt werden kann und was nicht, wobei Verstümmelung von
Zerstörung (Vernichtung) unterschieden wird, das Unterscheidungskriterium liegt
in der Erhaltung des Wesens. Nicht verstümmelt werden können etwa Wasser oder
Feuer, Zahlen oder Harmonien. Er belässt es schließlich bei zwei Typen von
Körpern, die Verstümmelung erleiden können: Becher und Mensch. Also ein
ziemlich banales Artefakt und der Herr aller Artefakte. Und bei diesem kommt er
natürlich in die Nähe der Ursprungsbedeutung des Wortes: etwa Verlust von
Extremitäten.
Denken wir
daran zurück, dass Aristoteles in gewisser Hinsicht alle Wesen als Körper
bezeichnet, dann geht es in diesem Abschnitt um eine Zweiteilung aller Wesen
unter dem Gesichtspunkt der Verstümmelbarkeit. Wenn ein Becher unter diesen
Begriff fallen kann, dann sicherlich auch ein Buch – auch es eine Art Behälter.
Und damit können wir auch einen Bogen zu Aristoteles schlagen, der in Büchern
wie in Zweitkörpern bis heute und bis hier weiterexistiert. Zum Beispiel in
meiner Reclamausgabe der Metaphysik, die aufgrund oftmaligen
Aufschlagens und Zuschlagens, Vor- und Zurückblätterns bis zum Buch V schon so
zerfleddert ist, dass die Verstümmelung bereits in Sicht ist. Dies gilt jetzt
für mein individuelles Exemplar. Für mein Poetik-Exemplar gilt das
bereits zur Gänze. Mit der Poetik hat es jedoch eine weitergehende
Bewandtnis. Denn das Buch II ist überhaupt verloren gegangen (Umberto Eco hat
den Verlustvorgang dramatisch ausgemalt). Ist nun die Poetik verstümmelt
oder zerstört? Einigen wir uns auf die erste Variante – dann trifft diese
sicherlich zu.
Und wie steht
es mit der Metaphysik? Vermutlich nicht sehr anders. Sie besteht aus 14
„Büchern“, von denen ungefähr sechs, nämlich I bis VI, so angelegt sind, als
wären sie Buch I – nämlich der Anfang eines größeren Werkes. So tut auch Buch
II, das jedoch nur aus ein paar Seiten besteht und im Griechischen mit
klein-alpha (nach Groß-Alpha) gezählt wird. Dieses Buch ist nur ein „Stummel“ –
also das, was einem Ganzen weggenommen worden ist.
Die Metaphysik
ist eine mit dreihundertjähriger Nachträglichkeit hergestellte Zusammenfügung
von Buchstücken, die vielleicht Bruchstücke sind. Und das Buch V mit seinen 30
Abschnitten liefert vielleicht das Modell dieser Fügung. Und der Abschnitt 27
liefert vielleicht eine Extremanalyse einer solchen Fügung, die immerzu
zwischen Wohlbehaltenheit und Vernichtung oszilliert.
Ein weiterer
und prominenter Zweitkörper des Aristoteles sitzt als Bronzestatue am Rand des
nach ihm benannten Platzes in Thessaloniki.
Große Statue von menschenfreundlichem
Charakter. Doch auf der rechten Wange und an der rechten Schulterpartie hat der
Bildhauer dem Körper ein paar Einschläge zugefügt. Kleine aber deutliche
Verletzungen – was für welche?
Walter Seitter
Sitzung vom 20. April 2016
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