τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 28. April 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1027a 28 - 1027b 16)

Am Schluß des letzten Protokolls habe ich das Ereignis erwähnt, das im christlichen Osterfest gefeiert wird: ein extrem akzidenzielles Ereignis im aristotelischen Sinn, nämlich ein sehr unwahrscheinliches, ja unmögliches. In der Poetik hat er auch derartige Ereignisse für den Plot von Tragödien vorgesehen – sofern es dem Dichter gelingt, sie in den wahrscheinlich-notwendigen Handlungsverlauf einzubinden. Und ich habe seinerzeit auf das Buch von Bruno Delorme hingewiesen, wo die These vertreten wird, dass die Evangelien von der Kompositionskunst der griechischen Poetik und Rhetorik gelernt haben.[1]

Aristoteles unternimmt nun einen neuerlichen Anlauf, um die Verursachung des Akzidens, also des selten oder unwahrscheinlich Eintreffenden, zu klären. Er macht es etwas umständlich, gibt eine Regel für Verursachung überhaupt an, die darauf hinausläuft, dass ein Geschehen in einem bestimmten Zeitpunkt durch ein anderes Geschehen in einem vorausliegenden Zeitpunkt oder –abschnitt herbeigeführt wird und dieses wiederum durch ein vorausliegendes Geschehen. Diese Zurückführung gelangt zu einem ersten Prinzip, einer ersten Ursache.

Sein Beispiel zeigt, dass es sich dabei um eine äußerst triviales Vorkommnis handeln kann. In diesem Fall geschah es, dass jemand daheim eine sehr salzige Speise zu sich genommen hat. Rein zufällig sind wir vor genau einem Jahr in diesem Aristoteles-Seminar auf die Nahrungsaufnahme und ihre möglichen Auswirkungen zu sprechen gekommen, darunter auch solche, die man als „Transsubstanziationen“ bezeichnen muß. Hier führt die Einnahme einer stark gesalzenen Speise zu einem starken Durstgefühl, und da es im Haus an einem geeigneten Getränk fehlt, geht der Betroffene hinaus. Dort aber, außer Haus, passiert ihm etwas, was alsbald zu seinem Tode führt: ein Gewaltüberfall oder eine schwere Erkrankung. Aristoteles lässt die Verursachung auf dieser Ebene der vorletzten Ursache offen, er lässt zwei Möglichkeiten zu und unterstreicht so den akzidenziellen Charakter der Verursachungskette.

Der liegt darin, dass zwischen dem Ausgangsgeschehen, einer bestimmten Nahrungsaufnahme, und dem schlussendlichen Zufallsgeschehen, dem Tod, keine einsichtige Kausalbeziehung besteht (auch nicht, wenn als vorletzte Ursache die Erkrankung angenommen wird, die ja auf Aushäusigkeit zurückgeführt wird).

Während in Buch V (1025a 25) Aristoteles den Zufall als Ursache für ein Akzidens, das selber zufälligen Charakter hat, angibt, verweist er hier auf drei der vier „normalen“ Ursachensorten, und auf die wieder alternativisch: Stoff- oder Ziel- oder Wirkursache.

Er ordnet also die Verursachung des Akzidens in die reguläre Verursachungslehre ein, mit gewissen Abstrichen. Als „erste Ursache“ muß das Essen der versalzenen Speise bezeichnet werden und sie könnte leicht als „Stoffursache“ identifiziert werden. Aber auch als „Zielursache“: Stillen des Hungers oder Befriedigung des Appetits, und ebenso als Wirkursache: Essvorgang.

Eine Akzidens-Verursachung ergibt sich durch den Mangel an Kenntnis aller Ursachen und der wiederum ist eine Folge der Häufung von kontrapunktischen Ursachen, etwa durch Hinzutreten eines Bösewichts.

Es bestätigt sich die Annahme, dass die Akzidenzien im zugespitzten Sinn, also die Zufälle, und ihre Verursachungen, die Dimension konstituieren, die wir mit Geschichte, Historie, Story bezeichnen.



Walter Seitter

Sitzung vom 26. April 2017



PS.:

Vortrag

Prof. Karel Thein (Karls-Universität Prag):
"Republic 10 on forms and artifacts"

am Mittwoch, dem 03.05.2017, 18:30 Uhr, NIG, Hörsaal 3A.

Es handelt sich um ein zentrales Problem des Platonismus – wovon gibt es eigentlich Ideen? Die Frage wird ja bereits bei Platon selbst aufgeworfen (z.B. Parmendides 130 d): Gibt es Ideen von Schlamm oder Haar? Mit Blick auf das 10. Buch der Politeia: Gibt es Ideen von Artefakten, wie der dort angesprochenen "Liege"?

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[1] Siehe Bruno Delorme: Le Christ grec. De la tragédie aux évangiles (Montrouge 2009); Walter Seitter: Poetik lesen 2 (Berlin 2014); 26f. 

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