In der Metaphysik lesen (BUCH
VII (Z), 1032b 30 – 1033a 5
Die begriffliche Unterscheidung sowie
die Feststellung der Koinzidenz zwischen Wesen und Einzelding war das Thema in
Abschnitt 6 von Buch VII – und zwar in Bezug auf alle Dinge oder Sachen, Körper
oder Eigenschaften.
In Bezug auf dieselben Dinge, die ja
nicht ewig sind, wird nun in Abschnitt 7 eine andere Seinsmodalität in den
Vordergrund gerückt: die Entstehung.
Da werden zwei Entstehungsarten
unterschieden, die in zwei verschiedenen Realitätsbereichen spielen: Natur und
Kunst. In beiden Entstehungsarten gibt es jeweils eine Kontinuität des Wesens:
ein neuer Mensch aus Stoff und Form (Wesen) zusammengesetzt wird aus einem
wesensgleichen alten gezeugt, der ebenfalls aus Stoff und Form (Wesen) besteht;
kurz gesagt: Mensch entsteht aus Mensch. Die künstliche Erzeugung oder
Entstehung eines neuen Hauses wird von Aristoteles resümiert mit: Haus entsteht
aus Haus; auch die beiden sind wesensgleich; aber mit dem Unterschied behaftet,
dass Haus 1 nicht aus Stoff und Form zusammengesetzt ist, es ist nur Form und
weil es nur Form ist, kann es nicht so in der räumlich-zeitlichen Außenwelt
sein wie Haus 2 sein wird (wenn es fertig ist). Haus 1 hat einen anderen
Aggregatzustand, es ist nur Form (ohne Stoff) und es braucht ein anderes Wo,
ein anderes Worin. Aristoteles nennt dieses Worin „Seele“ und er meint die
Seele des Baumeisters. Über diesen Unterschied hinweg entsteht auch „das Haus
aus Haus“: Haus aus Form und Stoff entsteht aus Nur-Form-Haus in der Seele.
(Zwischenstufen wie „Haus aus Bleistift und auf Papier“ werden weggelassen).
Das Nur-Form-Haus in der Seele mag
uns verständlich sein. Ähnlich die Nur-Form-Gesundheit in der Seele des Arztes.
In der Seele des Baumeisters dürfte
die Haus-Form eine größere Rolle spielen, denn sie entspricht seiner
professionellen Kompetenz. Allerdings werden für ihn auch andere Formen wichtig
sein: wenn er an seine Frau denkt, ist deren Form (Wesen) in seiner Seele
(vielleicht sogar, wenn er nicht an sie denkt); und wenn er an seinen Urlaub
denkt, irgendein Strand irgendwo. Die Seele des Baumeisters ist weit und hat
Platz bzw. ist Platz für viele Sachen.
Solche Feststellungen führen mich zu
einem berühmten Satz in einem anderen aristotelischen Buch: „Die Seele ist in
gewisser Weise alle Seiende.“ (De anima 431b 21).
Der Satz wird gewöhnlich übersetzt
mit: „Die Seele ist gewissermaßen alles Seiende“. Da wird dem Prädikatausdruck
die pluralische Formulierung weggenommen und der Satz wird so normalisiert. Das
Ungewöhnliche des aristotelischen Satzes liegt in dem Bruch zwischen
singularischem Subjektausdruck und pluralischem Prädikatausdruck. Dazu kommt
eine gewisse semantische Unstimmigkeit zwischen „die Seele“ und „alle Seiende“.
Semantisch stimmiger: „Ein Wald ist –
viele Bäume“. Dem Schema der Definition folgt so eine Aussage allerdings nicht.
Eine Definition besteht aus einer – singularischen – Gattungsangabe plus
irgendwelcher Differenzangabe(n). Etwa: „Ein Wald ist eine großflächige
Gruppierung von Bäumen“.
Lässt sich für die obige
aristotelische Prädika†sangabe auch ein Subjekt denken, das besser dazu passt?
Ja: „Die Welt ist – alle Seiende“.
Sophia Panteliadou bringt als
Gegenbeispiel einen in Griechenland üblichen Satz, in dem auf der Prädikatseite
ebenfalls das pluralische „panta“ steht, auf der Subjektseite das singularische
„Herz“. Also scheint der Satz mit dem aristotelischen sehr nahe verwandt zu
sein, denn Seele und Herz ...
Und doch liegen Welten zwischen den
Sätzen. Denn die griechische Redensart „Das Herz ist alles“ bedeutet: „Es
kommt aufs Herz an“, „Das Herz ist das Wichtige“. Eine Art Lebensweisheit, die
ganz und gar auf einem Singular insistiert, indem sie viele Aspekte und
Probleme des praktischen Lebens auf ein Eines zentriert.
Die Stoßrichtung des aristotelischen
Satzes geht ins Gegenteil. Wie ich schon geschrieben habe: eine explosive
Entgrenzung, in der die menschliche Seele, physikalisch Formursache oder Wesen
eines Dinges namens Mensch, plötzlich alle Dinge sein soll.
Diese „panta“ sind viel pluralischer
als das „panta“ im Sophia-Zitat: bei dem handelt es sich eher um den schwachen
neutralen Plural, der im Griechischen üblich ist (obwohl sogar da die
Plural-Bedeutung zunächst einmal ernst gemeint ist).
Der aristotelische Satz realisiert
und konstruiert den Plural auf der Prädikatseite auch physisch-sprachlich mit
drei Wörtern „ta onta ... panta“. Die Auseinanderziehung mit dem Intervall, die
ich mit drei Punkten schreibe (oder zeichne), wird von Aristoteles auch
geschrieben und zwar mit dem eingeschobenen „pos“ (gewissermaßen), das
wahrscheinlich zur Kopula gehört (die sich Aristoteles allerdings erspart hat),
sie könnte vielleicht sogar zu den „panta“ gehören (dann würden die
abgeschwächt). Immerhin kann man sagen, dass Aristoteles sein pluralisches
Prädikat mit sage und schreibe drei bis vier Wörtern anschreibt, das
singularische Subjekt mit einem Wort und die Kopula mit keinem (bis einem).
Die numerische Struktur des Satzes
sieht also so aus:
S
K
P
1
0 oder
1
3 oder 4
Ganz grob gezählt steht es 3:1 für
den Plural.
In den Weihnachtsferien habe ich am
halbsüdlichen Atlantik den neuen Sammelband aus der Kittler-Schule gelesen,
herausgegeben hauptsächlich von Peter Berz: Götter und Schriften rund ums
Mittelmeer (München 2017). Der wichtigste Artikel will beweisen, dass die
empedokleische Physik ein Abkömmling der pythagoreischen Mathematik ist. Eher
scheint er mir zu zeigen, dass Empedokles zur Physik gelangt ist, indem er die
Mathematik übernommen und verraten hat.
Der aristotelische Satz hingegen
stellt sich von vornherein
in die Physik, in die höhere Physik,
die weiß, dass Körper eigentlich immer eine Seele haben müssen. Aber mit seiner
eigenen Konstruktion inszeniert er die Struktur der Mathematik, den Kampf
zwischen Singular und Plural.
Die menschliche Seele ist das Wesen
des Menschen: jeweils ein Wesen. Und gleichzeitig ist sie, sagt Aristoteles,
das Wo, das Worin vieler, ja unzähliger Dinge – jeweils der Wesen.
Zu dem einen Menschenwesen eines
jeden Menschen kommen noch viele andere Wesen dazu: aktuell einige oder viele,
potenziell alle. Sie können oder müssen dazu kommen, weil das eine
Menschenwesen namens Seele so ein Zauberwesen ist, dass es viele andere Wesen
anzieht, aufnimmt, beheimatet, vielleicht auch wieder davonjagt und andere zu
sich hereinlässt. So dass sie insgesamt ein Schauplatz, ein Theater für alle
Wesen ist. Fast wie die Welt – obwohl sie doch viel kleiner ist. Wie groß ist sie?
Genau so groß wie der dazugehörige Körper ....
Dieses Dazukommen der anderen Wesen,
dieses Zusammenkommen aller Wesen – wie kommt es dazu? Kommt es
akzidenziellerweise dazu, also zufälligerweise, oder essenziellerweise – weil
das dem Wesen entspricht, das die Seele ist? Handelt es sich um eine
essenzielle Akzidenzialität? Eigentlich ist der Satz so angelegt – auch mit dem
Bruch zwischen Singular und endlosem Plural.
Das Zusammenkommen der vielen
„fremden“ Wesen mit dem einen „eigenen“ – das substanziell und mit Stoff
verbunden vorliegt, vorausexistiert, und zwar als große Offenheit für die
vielen Wesen, die da stofflos innewohnen?
Gemäß dem Hauptsatz der Ontologie
(1003a 32) hat „seiend“ mehrere Bedeutungsnuancen – ist also ein relativ
homonymes Wort. Andererseits gibt es für „sein“ unterschiedliche
Formulierungsmöglichkeiten, die folglich als Synonyme gelten können: einai und
hyparchein, enhyparchein, prohyparchein (alle diese drei in 1033a 30ff.) sowie
die öfter gebrauchte Schreibweise für die Kopula, die im Anima-Satz zu finden
ist und die so aussieht: . Etwas-schreiben durch Nichts-schreiben – so als ob
dieses Etwas beinahe nichts wäre.
Und dieses Seelen-Wesen das alle
Wesen „ist“. Ist es selber eine Art nichts? Offenheit, Weltoffenheit? Ein
offenes Fenster ist sehr wohl etwas – aber größtenteils besteht es aus
„nichts“.
*
Nach der kunstvollen und
wesensgemäßen Produktion der Gesundheit durch den Arzt geht Aristoteles auf die
spontane oder zufällige Entstehung ein. Am Körper des Kranken vollziehen
sich dabei ungefähr die gleichen Prozesse, wie sie vom Arzt gewusst und geplant
und durchgesetzt werden. Und das Schema lautet: Krankheit kommt von
ungleichmäßiger oder unmäßiger Kälte und der Weg zur Gesundung vollzieht sich
über die Wärme, die ein Teil oder der Anfang der Gesundheit ist. Wir
fragen uns, ob das Fieber ein Argument gegen Aristoteles liefert; eher nicht,
denn mit der Fieberhitze eröffnet der Körper selber – von selber also spontan -
den Kampf gegen die Kälte, die in den Körper eingedrungen ist (die Kälte
draußen schadet der Gesundheit gar nicht).
Etwas kann nur aus etwas entstehen:
aus einem gleichen Wesen, aus einem Anfangselement, aus einem Stoff, der auch
ein Teil ist. Der eherne Kreis besteht aus dem Stoff „Erz“ und der Gestalt oder
dem Begriff „Kreis“. Was aus Erz ist, muss ein Körper sein. In diesem Fall ein
kreisförmiger Körper – das kann ein Ring sein oder eine Scheibe.
Ein eherner Ring ist ein Körper, er
besteht aus Stoff und Form. Doch aufgrund seiner Form besteht er großenteils
aus „nichts“.
Walter Seitter
Sitzung vom 31. Januar 2018
Nächste Sitzung am 6. Februar 2018
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