τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 18. Februar 2018


In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1033a 6 – 24


Zu der sehr weiten Bestimmung der Seele in De anima 431b 21 stellen wir einige Überlegungen an. Die menschliche Seele, von der da die Rede ist, zeichnet sich gegenüber der pflanzlichen und tierischen dadurch aus, dass sie durch den nous (Vernunft) erweitert ist, sodass sie weit mehr fremde Eindrücke (pathemata) aufnehmen und als fremde Wesensformen festhalten kann (sicherlich auch mittels der Sprache), sodass sie eben nicht nur die Wesensform „Mensch“ ist, sondern ungefähr alle wie etwa „Haus“, „Gesundheit“, „Gott“ und so weiter. Diese aber in anderer Weise – eben „gewissermaßen“. Vielleicht in einer(?) eigenen Etage, irgendwie in „hinzukommender“, „akzidenzieller“ oder „symbebekotischer“ also „mitgekommener“ Weise. Die Seele als ein Fall, eine Sonderzone von essenziellem Akzidenzialismus, von Mengenbildung, Weltbildung ...

Und das spätantike griechische Wort für Bewusstsein, „syneidesis“, heißt wörtlich „Zusammenwissung“, noch wörtlicher „Mitgesehenhabung“. Von Aristoteles her ließe sich Bewusstsein als ein an ein Einzelwesen gebundenes pluralisches „Mehr-sein“, „Viele-sein“, „Quasi-alle-sein“ bestimmen.

In unserem Abschnitt geht es um die Seinsmodalität „Entstehung“ – und zwar um das Woraus der Entstehung. Haupttendenz der Aussage: ein Wesen entsteht aus etwas Wesensgleichem. Jenes ursprüngliche Etwas kann entweder auf der Ebene der Formursache oder auf derjenigen der Stoffursache liegen (womit zwei von den vier „Ursachen“ genannt sind).

In dem Buch, das wir jetzt lesen, betont Aristoteles hauptsächlich die Seite des Sachlichen. Gelegentlich aber wendet er sich der sprachlichen Seite der Angelegenheit zu: wie sprechen wir von diesen Vorgängen?

Wenn eine Statue aus Stein ist, nennen wir sie nicht mehr Stein – sondern Statue. Es ist hier eine neue Wesensform durchgesetzt worden und eine neue Substanz entstanden, weil die  - künstliche – Wesensform „Statue“ die – immer noch bestehende – Wesensform „Stein“ überformt hat. Und der „Stein“ transformiert sich in die akzidenzielle Qualität „steinern“. Unser Sprechen ersetzt das Substantiv durch das Adjektiv aus demselben Wortfeld. Und Aristoteles vollzieht die Adjektivierung auch an dem bloßen Demonstrativpronomen „jenes“ – vermutlich eine künstliche, eine neologistische Adjektivierung (wie Sophia Panteliadou meint): wenn etwas aus „jenem“ gemacht ist, dann ist es selber ein „jenernes“. Vielleicht ein Beispiel dafür, dass Aristoteles auch vor einem Wortspiel, das als Sprachmanipulation erscheint, nicht zurückschreckt.

Und wieder zurück zu dem Fall mit der ärztlichen Heilung. Woraus entsteht der Gesunde? Da sind zwei Antworten möglich: er entsteht aus dem Substrat Mensch oder er entsteht aus der Privation von „gesund“, also aus dem Kranken. Aristoteles meint, wir sagen eher: aus der Privation. In diesem Fall ziehen wir die Privation vor. Beim Entstehen einer Statue beziehen wir uns, wenn wir nicht vom Material reden, sondern von der Form, kaum von der Privation – die würde heißen „Nicht-Statue“, und das wäre eine „undeutliche und unbenannte“ Privation, die man „konstruktivistisch“ herbeisupponieren müsste.

Die Privation „krank“ ist hingegen ein echter mit Leiden verbundener Mangelzustand – da ergibt sich die Rede von Beraubung aus der Natur des Erlebens.

Wenn Aristoteles die Privation dennoch zu einem generellen Woraus der Entstehung erklärt, dann führt er einen kriminalistischen Begriff in die Ontologie ein, die es nicht immer mit menschlichen, mit (a)sozialen Umständen zu tun hat. Man könnte von einem anthropomorphisierenden, jedenfalls von einem dramatisierenden ontologischen Begriff sprechen.

Und damit hätten wir ein Gegenbeispiel zu der üblichen Kritik an der Ontologie, dass sie nämlich existenzielle Sachverhalte mit einer allzu neutralen Sprache (Hauptbegriff: „das Seiende“) verdeckt. Doch in ihrer allgemeinen ontologischen Bedeutung läuft die Privation darauf hinaus, dass jede Bestimmtheit mit dem Fehlen irgendeiner anderen Bestimmtheit verbunden ist, womit auch der Übergang zu dieser möglich ist – also ein Werden oder Entstehen.

Im Buch V hat Aristoteles den Privationen einen eigenen Abschnitt gewidmet (22), wobei er die speziellen Privationen, also die echten Mängel, im Bereich des Organischen ansiedelt (Pflanze, Mensch), dabei auch die Qualifizierung „schlecht“ einführt; die allgemeinen Privationen sieht er mit dem Präfix „un“ gekennzeichnet: unsichtbar, unschmelzbar; er geht aber auch zur Unterscheidung von gut und schlecht, gerecht und ungerecht über. Einer Sonderform von spezieller Privation, der Verstümmelung, hat er einen eigenen Abschnitt gewidmet (27); dabei geht es um Beraubungen, die auf einen Unfall zurückgehen; die können sowohl einen Menschen wie einen Becher betreffen.

Wir erwähnen das von Arnold Gehlen formulierte Theorem vom Menschen als „Mängelwesen“, womit eine konstitutive also essenzielle Organschwäche des Menschen (im Vergleich zu anderen Tieren) gemeint ist. Ein anderer Begründer der Philosophischen Anthropologie, Helmuth Plessner, sprach von einer „primären Unerfülltheit des Lebewesens“, damit meinte er den für alle Tiere zutreffenden Tatbestand eines ständigen Aneignen-müssens (atmen, essen ...). Wohl in der Nähe dessen liegt Jacques Lacans Rede vom menschlichen Begehren, das durch einen unaufhebbaren Mangel konstituiert ist.


Walter Seitter

Sitzung vom 14. Februar 2018



Nächste Sitzung am 21. Februar 2018

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