τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 3. Juni 2018


In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1037a 12 – 1038b 35)

Zweifüßler

Koch (Protokoll)
*Panteliadou
Seitter
Tillmann
Weinberger

Z 10: DIE DEFINITION DES TEILES UND DIE DES GANZEN (Rekapitulation)

Inwiefern muss eine Wesensbestimmung auf Teile und deren Wesensbestimmung zurückgreifen? Antwort: Manchmal (wenn es um Teile der Form geht) müssen die Teile in der Definition erwähnt werden, manchmal nicht. Anschlussfrage in Z 11: Wann ist etwas Teil der Form oder gehört zur Form?

Z 11: DIE TEILE DER FORM UND DIE DER KOMPOSITA (Schluss)

Thema: Physik übernimmt die Aufgabe einer 2. Philosophie [1037a 15]

Die Wissenschaft der Physik definiert die Wesen, in dem der Forscher a) die Sinnesdinge registriert, erfasst, empfindet, b) die sinnlich erfassbaren Wesen der Einzeldinge theoretisch betrachtet. Das Zwei-Stufen-Modell der Antike unterscheidet das Betrachten der sinnlicher erfassten Wesen von der eigentlichen Definition der Wesensdinge. Dabei übernehmen physikalische Gegenstände als Körper die Hauptrolle, sie müssen sichtbar, hörbar und/oder ertastbar sein, also einen Eindruck der Sinneswahrnehmung im kognitiven Apparat hinterlassen.

Diskussion: Entstehen die Eindrücke der Sinneswahrnehmung aus »unbekannten Ursachen in der Seele«, wie Hume [Traktat III.V] annimmt? Oder erhellen die Organe zunächst die komplexe Äußerlichkeit einzelner Dinge und der Verstand entwirrt dann seine Eindrücke von diesen Formen als isoliert, wie Locke [Essay III u. IV] darlegt?

Thema: Erkennen des begrifflich bestimmten Stoffes [1037a 16]

Der Physiker hat ein ausdrückliches Interesse an der Erwähnung des Stoffes in der Definition. Er bestreitet jede Möglichkeit einer außerhalb des konkreten Wesens liegenden Form.

Diskussion: Offenbar verspüren Naturwissenschaftler keinen dringenden Wunsch nach einer zusammengesetzten Ousia. Während der Metaphysiker/ Ontologe/ Philosoph dazu neigt, die Logik zur Physik der Seele zu machen, scheint der szientistische Zugang zur Welt auf der Stufe der Ionischen Schule des materiellen Substrats stehen zu bleiben. Da aber Denken an und für sich keine voraussetzungslose Tätigkeit ist, stellt Philosophie ein weiteres Sinnenobjekt des Menschen selbst dar (Feuerbach).

Thema: Eine Sache ist fraglich durch ihre Teile [1037a 19]

An der wieder aufgenommenen Diskussion über die Bestimmungen der Definition wird deutlich, dass die Schwarz-Übersetzung der Substanzbücher bei Reklam die Unterscheidung von Horismos und Logos durcheinander wirbelt, indem sie i) beide Ausdrücke als Definition und ii) zusätzlich Logos auch noch im Terminus Begriff wiedergibt.

Die ursprüngliche Fragestellung in Z 10 wird von Schwarz so übersetzt: »Da die Definition ein Begriff ist und jeder Begriff über Teile verfügt und der Teil des Begriffes sich zum Teil der Sache (pragma) gleich verhält wie der Begriff zur Sache, so stellt sich bereits die Frage, ob der Begriff der Teile im Begriff des Ganzen enthalten sein muss oder nicht« [1034b 20].

Horismos = Definition. Der Terminus bringt aber nicht zum Ausdruck, dass dieser ein                                sprachliches Gebilde ist, das aus Teilen zusammengesetzt ist
Logos = ein sprachliches Gebilde, das Teile besitzt

Worttreue Übersetzung: »Da aber der Horismos ein Logos ist und jeder Logos Teile hat und der Teil des Logos zum Teil der Sache im gleichen Verhältnis steht wie der Logos zur Sache, ergibt sich die Frage, ob der Logos der Teile im Logos des Ganzen enthalten sein muss oder nicht«. Verdeutscht: »Da aber der Definitionsvorgang sprachlicher Natur ist und jedes sprachliche Gebilde aus Teilen besteht und jeder Sprachteil zu den Teilen der Sache im gleichen Verhältnis steht wie das ganze Sprachgebilde zur Sache, ergibt sich die Frage, ob das sprachliche Gebilde der Teile im sprachlichen Gebilde des Ganzen enthalten sein muss oder nicht«.

Diskussion: Die Schwierigkeit liegt hier nicht an der Übersetzung allein. Walter Mesch zeigt, dass ‚Logos’ von Aristoteles in der zitierten Passage tatsächlich in verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. Gemeint, so Mesch, sei schlussendlich, dass nicht nur jeder Logos bloß einer Sache zugeordnet ist, sondern auch jede Sache bloß einen Logos besitzt.

Übertragen auf 1037a 19 bedeutet das nun: Das Definiens ist deshalb ein Begriff, weil bereits die bezeichnete Sache selbst über Teile verfügt.

Definiens = Wesen-Was, TEE (ti en einai); der Begriff, der das Definiendum erklärt. Das, was in der Definition von einem Ding gesagt wird. Mithin bei Aristoteles: seine eigentliche Form!
Definiendum = in der Definition zu erklärender Begriff

Thema: Das Wesen ist die einem Ding innewohnende Form [1037b 28]

Stoff ist relativ in Hinsicht auf eine bestimmte Form (Eidos im Sinn von morphê). Beispiel Menschenseele im Einzelmenschen. Anders als im konkreten Wesen dürfen im Begriff des Wesens keine Teile (im Sinn von Stoff) enthalten sein. Ein problematisches Postulat bei Hohlnasigkeit, Krümmung-sein und eben der Menschenseele. Die Trennung von Form und Stoff stößt erneut an eine Grenze.

Diskussion: Die Definitionskraft der Form hat mehrere Schwächen. Zunächst auf der Ebene der physikalischen Wahrnehmung: »Als einzelnes Ding aber besteht das Konkrete aus dem letzten Stoff« [1035b 30]. Im Sonderfall des Lebewesens findet Aristoteles zwar einen Ausweg. »Ein Lebewesen kann nicht ohne Bewegung definiert werden« [1036b 28], was eine besondere stoffliche Beschaffenheit, genau gesagt: den Stoffwechsel, verlangt. Der Fall des Lebewesens ändert aber nichts daran, dass die Undefinierbarkeit des Einzelnen (im Form-Materie-Kompositum) die Annahme individueller Formen wieder grundsätzlich fragwürdig erscheinen lässt. Bei der Hohlnasigkeit wird die Definition der allgemeinen Form von einem Stoff abhängig gemacht, der über die Analyse des Einzels von Einzeldingen überhaupt erst ins Spiel gekommen ist (Beisbart).

Thema: Form als das eigentliche Sein [1037b 5]

In welchem Sinn hat das Einzelding überhaupt einen Begriff? Die Antwort des Aristoteles verschränkt den Formaspekt mit der Definitionskraft: Das Einzelding hat einen Begriff als eine bestimmte Form aufweisend, zu einer Art gehörend, nicht aber, was seine Materie betrifft. Materie individuiert; Form bestimmt das Wesen und gehört in die Definition. 
Zusammengefasstes wird – notgedrungen – als nicht identisch mit dem Definiens (TEE) angesehen. Der Ausschluss stofflicher Teile aus der Definition zwingt Form in die Rolle des 1. Wesens (prôte ousia), kann dort aber dennoch keine selbstständige Regie beanspruchen (Mesch). 

Diskussion: Die Krümmung wäre demnach eine prôte ousia für den Kreis. Unter welchen Bedingungen ist eine Krümmung ein 1. Wesen? Kreisförmigkeit ist ein reiner Formaspekt; lässt sich in unterschiedlichen Stoffarten realisieren. Der Kreis kann sogar aus geistigem Stoff bestehen [1037a 4]. Doch wie findet man heraus, was in welchem Material realisierbar ist?

Z 12: DIE EINHEIT DER DEFINITION

Thema: Einheit des Definiens in einer Definition [1037b 12]

Das ganze Buch 7 handelt vom Wesen, welches bezeichnet a) ein bestimmtes Eines, und b) ein Das [1037b 27]. Wie ist die Einheit des Definiens (TEE) in einer Definition zu denken? Jedenfalls nicht als Kompositum aus Form und Stoff. In der Definition einer ganzen Sache sind nicht die Definitionen aller Teile enthalten, sondern nur die der formalen.

Diskussion: Der Reihe nach werden das Eidos und die Form des Menschseins als 1. Substanz (prôte ousia) ausgewiesen. Ist Eidos (im Sinn von morphê) als Artbestimmung und/oder als Eigenschaft zu verstehen? Lässt sich die Definition von Form so behandeln als sei sie die Definition schlechthin? Aristoteles fasst Wörter als implizite Definitionen auf. Wie soll er dabei der Kritik entgehen, die er gegen Platon vorbringt?

Thema: Das Verhältnis von Begriff und Definition [1037b 10]

Begriffe haben logische Priorität vor der Definition. In der Definition wird der Begriff mit zwei neuen Begriffen definiert, die sich nicht gegenseitig modifizieren dürfen. Hier handelt es sich um eine spezielle Vielteiligkeit des Logos. Aristoteles vergleicht zwei paarige Begriffe für den Homo sapiens:
          i) das »zweibeinige Lebewesen«: keine Affektion, sondern eine Artbestimmung; eine Spezies innerhalb der Lebewesen, und
          ii) den »weißen Menschen«: keine Art-, sondern eine Eigenschaftsbestimmung; der Mensch ist bereits die Spezies, die von seiner Weißheit nicht modifiziert werden kann.

Diskussion: In dem Terminus »weißer Mensch« weist das Definiens in der Definition keine Einheit auf. Er ist ein Vieles [1037b 15] – ein akzidentielles Kompositum. Kommen mehrere Qualitäten in einem Definiens zusammen, müssen sie logisch zusammengehören, was aber bei der Zweibeinigkeit und der Vernünftigkeit des Menschen nicht der Fall ist. Die aristotelische Lösung: Minimierung in der Bestimmung der Definition, den »Unterschied in seine Unterschiede zerlegen« [1037b 8]; hierarchische Unterteilung in immer speziellere Untergattungen (differentia specifica).

BEFUSSTES LEBEWESEN
(weder mit noch ohne Flügel)
spaltfüßig -- breitfüßig
schwarz spalt-/ schwarz breit- -- weiss spalt-/ weiss breitfüßig
Konkrete Füße aller einzelnen Lebewesen

Jede neue Differenz qualifiziert die vorhergehende.

1. Handelt es sich bei dem Ding um ein Lebewesen? – Ja.  Das gesuchte Ding gehört zur Gattung der Lebewesen.

2. Bewegt es sich auf Füßen fort? – Ja, das Lebewesen bewegt sich auf Füßen fort.

3. Gehört es zur Gruppe der breitfüßigen Lebewesen? – Ja, es gehört zur Gruppe der Breitfüßler.

4. Ist der breite Fuss des Lebewesens weiß? – Ja, dieser Mensch ist ein weißhäutiger Fußgänger.

Bei der letzten Differenz sind bereits alle anderen mitgedacht.

Für Beisbart ist in dieser hierarchischen Ja-Nein-Methode noch nicht geklärt, inwiefern Gattung und Differenz eine Einheit bilden. Laut Detel funktioniert die »Zerlegung« nicht im Fall hyletischer Formen.

Thema: Im Wesen selbst liegt keine Ordnung vor [1038a 33]

Aristoteles löst das Problem der begrifflichen Einheit durch einen Art Definitionslehre, gewissermassen eine Definition der Definition. Die vorgeschlagene Methode: das dihairetische Vorgehen einer fortschreitenden Differenzierung. Dabei muss man in der Definitionsarbeit bei einer hierarchischen Unterscheidungslinie bleiben. Freilich welche der Unterscheidungslinie im konkreten Fall über die anderen obsiegt (Zweibein, Breitfuß oder Vernunftleuchte im Fall des Menschen), das unterliegt dem kreativen Chaos des Denkens, das tönt im Sound jenes Tohuwabohu, aus dem die Welt angeblich hervorging.

Diskussion: Führt uns der Autor am Beispiel von Zweibeinig- bzw. Breitfüßigkeit den Menschen unernsthaft, d.h. ironisch vor, oder, im Gegenteil: ausgesprochen sachlich und seriös? Wäre der Mensch als »vernunftbegabtes Wesen« (Homo sapiens) eine höhere Definition im Vergleich zum simplen »Zweibeiner« oder dem bloßen »Fußgeher«? Wäre eine Definition des Menschen als »beseeltes Lebewesen« irgendwie ernsthafter, sachlicher, oder ist – umgekehrt – eher das Definiens Seele romantisch? Auch der Bedeutungsgebrauch des Ausdrucks Seele bleibt bei Aristoteles nicht einheitlich.

Seele = Ursache des Seins im Lebewesen [1017b 16], Wesen des Körpers (1017b 17), Wesen des Belebten [1035b 15], weitreichendes Programm des Lebens
Seele = alle Dinge [De anima 431b 21], als ein Fall, eine Sonderzone von essenziellem Akzidenzialismus, von Mengenbildung, Weltbildung, siehe Seitter-Protokoll vom 19.2.18

Literatur
Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, Übersetzung: Franz F. Schwarz, 1970/2000
Beisbart, Claus: Die Entfaltung der Substanzmetaphysik, Vorlesung TU Dortmund, 2010
Detel, Wolfgang: Aristoteles. Metaphysik. Bücher VII und VIII, 2009
Feuerbach, Ludwig: Über Spiritualität und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit, 1866
Hume, David: Treatise of Human Nature / Traktat über die menschliche Natur, 1739/40
Locke, John: An Essay Concerning Humane Understanding / Eine Abhandlung über den menschlichen Verstand, 1690
Mesch, Walter: Die Teile der Definition (Z 10-11), in: Rapp, Christof (Hg.): Metaphysik. Die Substanzbücher, 1996

Sitzung vom 30. Mai 2018
                                                                       

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