Quer zur bisherigen Lektüre und Diskussion ontologischer
Darlegungen in der Metaphysik, vor allem in Buch IV und VII, möchte
ich zwei Begriffe hervorheben und ihre Tragweite erörtern.
Einerseits sei der Begriff on - seiend
herausgehoben, andererseits der Begriff ousia – Seiendheit, Wesen,
Substanz ....
Im Buch IV heißt es: Es gibt eine Wissenschaft, die das
Seiende als solches und die ihm zukommenden Bestimmungen betrachtet ...
das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt ... Wesen oder Affektionen oder
Weg zum Wesen oder Vernichtungen oder Beraubungen oder Qualitäten ... oder
Verneinungen (1003a 21ff.)
Dieser Begriff „seiend“ ist der Grundbegriff der
Ontologie und er explodiert gleichsam, sobald man ihn angreift, in alle
mögliche Richtungen und Grade von Seinsmodalitäten: von der stabilen
Seinsmodalität „Wesen“ bis hin zu akzidenziellen oder abhängigen Eigenschaften
und sogar zum Nicht-Seienden, sofern es doch ein Seiendes ist, wenngleich mit
negativem Vorzeichen.
Ein Begriff von minimaler semantischer Intensität, äußerst
flexibel, kann er sowohl sehr wie auch kaum „Reales“ bezeichnen,
Seinsmodalitäten von dieser oder jener Art, Relationen, Potenzialitäten,
durchgehende Bestimmungen wie „ein“ oder „wahr“.
Man könnte on wohl auch mit „real“ übersetzen,
es heißt sowohl „etwas seiend“ wie „existierend“ und sogar dessen Negation.
Die Formel „das Seiende“ hat etwas Steifes und sie verdeckt
daher die semantische Flexibilität des Ausdrucks, der ein Minimalausdruck ist,
aber das Maximale nicht ausschließt. Die Formel hat etwas
Neutrales – sie soll aber nicht nur „neutrale“ Aspekte
bezeichnen sondern auch intensive, dramatische, lebendige (wiewohl
dieses Wort schon an bestimmte Realitätsbereiche denken lässt).
Die Mannigfaltigkeit von „seiend“ könnte man eine Polysemie
nennen und mit Homonymie in Verbindung bringen. Sie wird ja auch von
Aristoteles offiziell deklariert.
Bei der ousia, als der höchsten Bedeutung von
„seiend“, handelt es sich um einen Hauptbegriff der Ontologie.
Und da lässt sich eine andere Mannigfaltigkeit feststellen, die Aristoteles nur
mit seinem Sprachgebrauch indiziert, immerhin manchmal auch deutlich sichtbar
macht, so im Buch VII, 1035b 14ff., wo er ousia, logos, eidos, to ti en
einai als Synonyme hintereinander schaltet. Sehr verschiedene Wörter,
die das Gleiche bezeichnen und es doch differenzieren, nuancieren.
Nämlich das Wesen, die Substanz, die Essenz. Jetzt habe ich
selber schon drei ziemlich verschiedene Wörter für dieses Gleiche genannt – und
damit so etwas gemacht wie Aristoteles an der angegebenen Stelle.
Nach über 2000 Jahren Übersetzungsgeschichte verfügen wir über
noch mehr Synonyme für die ousia als Aristoteles, bei dem sich
immerhin ungefähr zehn davon auffinden lassen – neben den eben genannten auch
Form, Vorbild, Natur, Wirklichkeit, Zielbestimmtheit.
Die Mannigfaltigkeit der ousia lässt sich als
eine synonymische oder polynomische bezeichnen: verschiedene Wörter für ein
Gleiches. Dieses Gleiche ist die höchste Stufe der viel heterogeneren
Variationen von seiend. Dieses Gleiche ist das Wesen.
Eine Mannigfaltigkeit, die uns erlaubt, ja dazu auffordert, dass
wir beim Übersetzen von ousia nicht krampfhaft ein einziges
Wort privilegieren müssen.
Die eingehende Diskussion der ousia im Buch VII
bewegt sich hauptsächlich in dem Realitätsbereich, den man den biologischen
nennen könnte und in dem die ousia den Platz der Art
(innerhalb einer Gattung) einnimmt. Das ist auch der Platz der „Seele“ – welche
ebenfalls an der angegebenen Stelle als Synonym des Wesens genannt wird.
Das überraschendste Synonym dieser
Art ist wohl das persönliche Fürwort „du“, das Aristoteles ausdrücklich
einführt, wenn er sagt: „Denn das Du-sein ist nicht das Musisch-sein. Denn du
bist nicht musisch, insofern du bist, was du also bist, insofern du du bist,
das ist dein Was-es-ist-dies-zu-sein.“ (1029b 15ff. ). Die synonymische oder
polynomische Mannigfaltigkeit der ousia erreicht hier eine
Spitze, die – jedenfalls für die Antike – schon außerhalb der üblichen
Begrifflichkeit liegt.
Umso mehr darf sie als eine wichtige
Besonderheit des aristotelischen Substanzauffassung gelten und diese aus dem
Vorurteil lösen, es handle sich um eine Konzeption, die alle Dinge unter
einen starren Begriff zwinge.
Der Begriff der ousia ist
nicht im gleichen Sinn mannigfaltig wie der des on. Er ist
grundsätzlich gedoppelt-gespalten: das Einzelne und dessen Was. Und zudem
streut er sich in viele verschiedene Ausdrücke. In unabzählbare – auch der
moderne Begriff „Individuum“ könnte da eingesetzt werden. Wenn es in der
Scholastik geheißen hatte „Das Individuum ist nicht aussprechbar“, wird man nun
dazu sagen können „Das Individuum ist sehr wohl ansprechbar“ – mit dem Du. Und
die anderen persönlichen Fürwörter sind nicht aus- sondern miteingeschlossen.
Die „mannigfache Bedeutung des
Seienden“ ist seit langem ein bekannter Topos in der Aristoteles-Forschung. Die
„vielfältige Benennung des Wesens“ könnte eine neue Perspektive bilden.
Walter Seitter
Sitzung vom 13. Juni 2018
Nächste Sitzung am 20.
Juni 2018
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