Wir sprechen
über unsere Lese- und Diskussionserfahrungen mit der Metaphysik und
ich stelle die vage These auf, dass Aristoteles mit diesem Buch auch seinem
Verständnis nach kein „normales“ Buch gemacht hat, was an den unterschiedlichen
Titeln, an der eklatanten Heterogenität der Kapitel („Bücher“) und an seinem
nicht immer kohärenten Aussageverhalten sichtbar ist. Er benennt sein
Projekt zunächst recht unbestimmt als „gesuchte“ Wissenschaft – das heißt,
er will etwas machen, was noch weit weg ist. Er bestimmt zunächst nur sich –
als einen Suchenden, er rückt sich in die Position der Suche, einer
Suchbewegung, einer suchenden Wissenschaft. Aber eben doch: Wissenschaft. Suche
nach einem Wissen mit der hohen Wissensform der Wissenschaft. Solches Wissen
geht über die Wahrnehmungen hinaus, bezieht sich auf Kunstausübung, verbindet
damit die Fähigkeit zum Lehren sowie das Wissen vom Allgemeinen und von
Ursachen.
Die hier
gesuchte Wissenschaft hat die ersten Prinzipen und Ursachen zu betrachten, zu
denen auch das Gute und das Ziel gehören – deshalb knüpft sie an die „Weisheit“
an und ist von Philosophen und Theologen bereits versucht worden. Also ein
extrem weit gespanntes Vorhaben, das in unterschiedlichen Zugängen angepackt
wird. Liste von Aporien und ihren Lösungen, Lexikon von Begriffen, schließlich
dominiert die Abhandlung.
Wolfgang Koch
sagt, dass sich die Metaphysik mit dem Begriff des
Wesens beschäftigt, und zwar in großer Distanzierung vom sinnlich
Wahrnehmbaren. Dies entspricht zwar der eben zitierten ersten
Aufgabenbestimmung, aber kaum unserer Lektüreerfahrung gerade in Buch VII
und VIII. Da geht es um die sinnlich erfassbaren Wesen, das heißt um
wahrnehmbare Dinge. Wieso kommt es zum Begriff „Wesen“? Weil alle Dinge
einer Spezies angehören – nicht nur die Pflanzen und Tiere sondern auch
Artefakte wie Häuser und deren Bestandteile. Das Wesen ist laut Aristoteles das
unentstandene Organisationsprinzip, das den jeweiligen Körper zu einem
bestimmten Ding qualifiziert. Ich reiche ein gelbes birnenförmiges Holzstück
herum – erst beim Angreifen wird deutlich, dass es nicht der Spezies „Birne“
angehört sondern irgendeiner anderen aus der Gattung der Spielzeuge.
Die Thematisierung
der Wesen als solcher nimmt in der Metaphysik einen breiten Raum ein,
und zwar innerhalb der „Ontologie“, für die das „Wesen“ ein Hauptbegriff ist –
neben den Akzidenzien, dem Entstehen und Vergehen, der Wirklichkeit und
der Möglichkeit .... Den anderen Pol der Metaphysik bildet die
sogenannte „Theologie“ – die nicht mehr als 2% des Gesamtumfangs einnimmt.
Ármin Tillmann
äußert sich skeptisch zu einer Wahrheit „an sich“ und plädiert für eine
Einbeziehung eines unvermeidlichen „Politischen“ auch in der Theorie; Bernd
Schmeikal meint, ohne Interessen und Leidenschaft komme man zu keiner
wissenschaftlichen Erkenntnis. Ich: das würde wohl auch für die aristotelischen
theoretischen Wissenschaften (Physik, Mathematik, Metaphysik) gelten, selbst
wenn für diese die Erkenntnis das letzte Ziel sei – im Unterschied zu den
poietischen und praktischen Wissenschaften, deren Zweckbestimmung übers Wissen
hinausgeht. Mit dem Konzept der „Erkennntispolitik“ habe ich die
beiden Aspekte der Machtwirkungen und der Wahrheitsrelevanz zu verbinden
gesucht.
Gibt es im Text
der Metaphysik Hinweise auf politische Implikationen ihrer
Aussagen? Die Polemik gegen die Platoniker und Sophisten erreicht manchmal eine
Schärfe, die vermuten lässt, Aristoteles möchte eine „platonische“ Herrschaft
von Philosophenkönigen ebenso hintanhalten wie das Durchgreifen von „Inkorrekten“,
die sich um die Wahrheit und um feine Unterscheidungen nicht kümmern.
Doch mit solchen
Zuschreibungen entfernt man sich kaum von den bekannten Parteilichkeiten
politisch-moralischer Art.
Da ich die
Ontologie für das Hauptstück in diesem Buch halte, möchte ich deren
theoretische Stoßrichtung vorläufig so resümieren: Aristoteles schreibt unter
allen Seinsmodalitäten dem „Wesen“ den Primat zu und zwar so, dass er das Wesen
mit Synonymen, das heißt mit Parallelbegriffen anreichert, sodass es zu einem
sehr komplexen Begriff wird. Einige dieser Nuancierungen weichen von der
Dinglichkeit, die ja den semantischen Kern des Wesensbegriffs ausmacht,
deutlich ab – etwa energeia oder entelecheia, sodaß der
Wesensbegriff seine klare Kontur einbüßt und sich sogar
einem ontologischen Alternativbegriff wie „Geschehen“ etwas
annähert. Was allerdings die Dominanz des Wesens nicht mindert sondern eher
steigert. Gleichzeitig setzt Aristoteles diesem Wesen vielerlei Nicht-Wesens-Begriffe
entgegen – das sind einmal die neun Akzidenzien, die schon in den Kategorien genannt
worden sind, und dann noch einige andere Seinsmodulierungen wie Weg ins Wesen,
Entstehen, Vergehen, Bewegung, Möglichkeit. Alle diese Bestimmungen – auch sie
nicht auf eine feste Zahl festlegbar – bilden Gegengewichte gegen das Wesen.
Sie gefährden kaum den Primat des Wesens, des Dings, des Akteurs – wohl
aber sorgen sie dafür, dass ihm keine Monopolstellung zugesprochen wird wie
etwas dem parmenideischen Seienden.
Denn das ist der
Unterschied zwischen dem parmenideischen Seienden und dem aristotelischen
Seienden, dass dieses „mannigfaltig ausgesagt“ wird und das Wesen nur eine
seiner Bedeutungen ist.
Die Stoßrichtung
der aristotelischen Ontologie ist wohl eine rein theoretische – aber sie hat
eine gewissermaßen praktische, jedenfalls machtspielerische Schlagseite
dahingehend, dass schwächere Seinsmodulierungen wie Möglichkeit,
Passivität, Privation nicht ins Nicht-sein verworfen werden sondern auf der
Seite der Entitäten anerkannt werden. Es handelt sich um eine
fundamentalontologische Option – in gewissem Sinn auch um eine
elementarpolitische.
Walter Seitter
Seminarsitzung
vom 5. Dezember 2018
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