τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 9. Dezember 2018

In der Metaphysik lesen – Zwischenrésumé


Wir sprechen über unsere Lese- und Diskussionserfahrungen mit der Metaphysik und ich stelle die vage These auf, dass Aristoteles mit diesem Buch auch seinem Verständnis nach kein „normales“ Buch gemacht hat, was an den unterschiedlichen Titeln, an der eklatanten Heterogenität der Kapitel („Bücher“) und an seinem nicht immer kohärenten Aussageverhalten sichtbar ist. Er benennt sein Projekt zunächst recht unbestimmt als „gesuchte“ Wissenschaft – das heißt, er will etwas machen, was noch weit weg ist. Er bestimmt zunächst nur sich – als einen Suchenden, er rückt sich in die Position der Suche, einer Suchbewegung, einer suchenden Wissenschaft. Aber eben doch: Wissenschaft. Suche nach einem Wissen mit der hohen Wissensform der Wissenschaft. Solches Wissen geht über die Wahrnehmungen hinaus, bezieht sich auf Kunstausübung, verbindet damit die Fähigkeit zum Lehren sowie das Wissen vom Allgemeinen und von Ursachen.

Die hier gesuchte Wissenschaft hat die ersten Prinzipen und Ursachen zu betrachten, zu denen auch das Gute und das Ziel gehören – deshalb knüpft sie an die „Weisheit“ an und ist von Philosophen und Theologen bereits versucht worden. Also ein extrem weit gespanntes Vorhaben, das in unterschiedlichen Zugängen angepackt wird. Liste von Aporien und ihren Lösungen, Lexikon von Begriffen, schließlich dominiert die Abhandlung.

Wolfgang Koch sagt, dass sich die Metaphysik mit dem Begriff des Wesens beschäftigt, und zwar in großer Distanzierung vom sinnlich Wahrnehmbaren. Dies entspricht zwar der eben zitierten ersten Aufgabenbestimmung, aber kaum unserer Lektüreerfahrung gerade in Buch VII und VIII. Da geht es um die sinnlich erfassbaren Wesen, das heißt um wahrnehmbare Dinge. Wieso kommt es zum Begriff „Wesen“? Weil alle Dinge einer Spezies angehören – nicht nur die Pflanzen und Tiere sondern auch Artefakte wie Häuser und deren Bestandteile. Das Wesen ist laut Aristoteles das unentstandene Organisationsprinzip, das den jeweiligen Körper zu einem bestimmten Ding qualifiziert. Ich reiche ein gelbes birnenförmiges Holzstück herum – erst beim Angreifen wird deutlich, dass es nicht der Spezies „Birne“ angehört sondern irgendeiner anderen aus der Gattung der Spielzeuge.

Die Thematisierung der Wesen als solcher nimmt in der Metaphysik einen breiten Raum ein, und zwar innerhalb der „Ontologie“, für die das „Wesen“ ein Hauptbegriff ist – neben den Akzidenzien, dem Entstehen und Vergehen, der Wirklichkeit und der Möglichkeit .... Den anderen Pol der Metaphysik bildet die sogenannte „Theologie“ – die nicht mehr als 2% des Gesamtumfangs einnimmt.

Ármin Tillmann äußert sich skeptisch zu einer Wahrheit „an sich“ und plädiert für eine Einbeziehung eines unvermeidlichen „Politischen“ auch in der Theorie; Bernd Schmeikal meint, ohne Interessen und Leidenschaft komme man zu keiner wissenschaftlichen Erkenntnis. Ich: das würde wohl auch für die aristotelischen theoretischen Wissenschaften (Physik, Mathematik, Metaphysik) gelten, selbst wenn für diese die Erkenntnis das letzte Ziel sei – im Unterschied zu den poietischen und praktischen Wissenschaften, deren Zweckbestimmung übers Wissen hinausgeht. Mit dem Konzept der „Erkennntispolitik“ habe ich die beiden Aspekte der Machtwirkungen und der Wahrheitsrelevanz zu verbinden gesucht.

Gibt es im Text der Metaphysik Hinweise auf politische Implikationen ihrer Aussagen? Die Polemik gegen die Platoniker und Sophisten erreicht manchmal eine Schärfe, die vermuten lässt, Aristoteles möchte eine „platonische“ Herrschaft von Philosophenkönigen ebenso hintanhalten wie das Durchgreifen von „Inkorrekten“, die sich um die Wahrheit und um feine Unterscheidungen nicht kümmern.

Doch mit solchen Zuschreibungen entfernt man sich kaum von den bekannten Parteilichkeiten politisch-moralischer Art.

Da ich die Ontologie für das Hauptstück in diesem Buch halte, möchte ich deren theoretische Stoßrichtung vorläufig so resümieren: Aristoteles schreibt unter allen Seinsmodalitäten dem „Wesen“ den Primat zu und zwar so, dass er das Wesen mit Synonymen, das heißt mit Parallelbegriffen anreichert, sodass es zu einem sehr komplexen Begriff wird. Einige dieser Nuancierungen weichen von der Dinglichkeit, die ja den semantischen Kern des Wesensbegriffs ausmacht, deutlich ab – etwa energeia oder entelecheia, sodaß der Wesensbegriff seine klare Kontur einbüßt und sich sogar einem  ontologischen Alternativbegriff wie „Geschehen“ etwas annähert. Was allerdings die Dominanz des Wesens nicht mindert sondern eher steigert. Gleichzeitig setzt Aristoteles diesem Wesen vielerlei Nicht-Wesens-Begriffe entgegen – das sind einmal die neun Akzidenzien, die schon in den Kategorien genannt worden sind, und dann noch einige andere Seinsmodulierungen wie Weg ins Wesen, Entstehen, Vergehen, Bewegung, Möglichkeit. Alle diese Bestimmungen – auch sie nicht auf eine feste Zahl festlegbar – bilden Gegengewichte gegen das Wesen. Sie gefährden kaum den Primat des Wesens, des Dings, des Akteurs – wohl aber sorgen sie dafür, dass ihm keine Monopolstellung zugesprochen wird wie etwas dem parmenideischen Seienden.

Denn das ist der Unterschied zwischen dem parmenideischen Seienden und dem aristotelischen Seienden, dass dieses „mannigfaltig ausgesagt“ wird und das Wesen nur eine seiner Bedeutungen ist.

Die Stoßrichtung der aristotelischen Ontologie ist wohl eine rein theoretische – aber sie hat eine gewissermaßen praktische, jedenfalls machtspielerische Schlagseite dahingehend, dass schwächere Seinsmodulierungen wie Möglichkeit, Passivität, Privation nicht ins Nicht-sein verworfen werden sondern auf der Seite der Entitäten anerkannt werden. Es handelt sich um eine fundamentalontologische Option – in gewissem Sinn auch um eine elementarpolitische.

Walter Seitter


Seminarsitzung vom 5. Dezember 2018


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