τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 13. Januar 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1043b 17 – 1044a 14)

In Platons Hippias maior berichtet der Sophist Hippias von Elis, dass das Theorie-Interesse bei den Spartanern eine sehr spezielle Richtung eingeschlagen habe. Eine andere als bei den Naturphilosophen, eine andere auch als etwa bei den athenischen Philosophen. Sie interessierten sich für die Anfänge der Menschheitsgeschichte, wollten auch noch vor diese zurückgehen, bis auf die Heroen, und über die ersten Stadtgründungen belehrt werden. Das Wort für diese Erforschung der Anfänge lautet „Archäologie“ (285d 9) - nimmt also den Begriff vorweg, der seit dem 18. Jahrhundert nach Christus ein Signum der Moderne ist.

(Man könnte sagen, dass die athenischen Tragödien so ein „archäologisches“ Erkenntnisinteresse ausagiert haben)

Aristoteles hat seine Suche nach den „anfänglichen Ursachen“ an die Naturphilosophen angelehnt. Eine zweite Untersuchnungsrichtung nennt er „Betrachtung des Seienden als seienden und der ihm zukommenden Bestimmungen“ – die man zu Beginn der Neuzeit „Ontologie“ genannt hat. Diese Betrachtung hält sich in der Gegenwart auf und Wolfgang Koch sagt, sie setze voraus, dass sich die Dinge selber zeigen und den Menschen eigentlich nichts zu tun bleibe.

Ich stimme dieser Auffassung in einer milden Variante zu – aber nicht so weit, dass die Dinge sich offenbaren. Von Offenbarung spricht man, wenn personal gedachte Wesen intentional von sich Kunde geben und von den Adressaten In†eresse und Glauben erwarten – also in Offenbarungsreligionen. Nichts dergleichen bei Aristoteles.

In seiner Erkenntnisauffassung erscheinen die Dinge – häufig lückenhaft und unvollständig. Und die Menschen müssen sehr wohl etwas tun, um aus den Erscheinungen Erkenntnis zu gewinnen – sie müssen streben, betrachten, beweisen, sprechen, diskutieren, lehren, lernen.

In Buch VII und Buch VIII bemüht sich Aristoteles hartnäckig, zu klären, was er unter „Wesen“ versteht. Ich bilde jetzt den Satz „Jedes Ding gehört zu einer Spezies“ und behaupte, dass damit der aristotelische Wesensbegriff expliziert wird - und zwar in einer Weise, die sich an Botanik und Zoologie anlehnt. Eine Anlehnung, die den Wesensbegriff zu trivialisieren scheint. Aber sie verfälscht ihn nicht.

Es gibt viele Spezies, denen die sehr vielen Dinge angehören können. Zum Beispiel Dinge, die „Antigone“ heißen, gehören entweder der Spezies „Mensch“ an oder der Spezies „Tragödie“.

Diese Zugehörigkeit hat zur Folge, dass kein Ding, oder sagen wir, fast kein Ding, einzigartig ist – sondern jeweils mit anderen Dingen das Wesen gemeinsam hat. „Spezies“ erweist sich als ein aristotelisches Synonym für „Wesen“. Das Wesen geht über das Einzelding, das vergängliche hinaus – was so ausgedrückt wird, dass das Wesen bzw. die Form nicht erzeugt wird, wohl aber das aus Stoff und Form zusammengesetzte Konkrete. (1043b 17 )

Die ontologische Betrachtung spaltet/doppelt gewissermaßen das Wesen in zwei Versionen auf (in den Kategorien sprach Aristoteles von Wesen 1 und Wesen 2). Doch hat diese Spaltung/Doppelung bei Aristoteles einen anderen Charakter als bei Platon: bei Aristoteles wohnt das eine Wesen dem anderen inne.

Seit Pythagoras galten die Zahlen als grundlegende Schicht der Realität. Aristoteles hat diese Ansicht der Pythagoreer im Abschnitt 5 von Buch I referiert. Im Abschnitt 16 von Buch VII setzt er seinen Wesensbegriff von der Ebene des Einen ab und in unserem Abschnitt behauptet er mit größter Deutlichkeit, dass das Wesen nicht Eines oder Punkt ist, sondern Vollendung und Natur (1044a 9). Entelecheia und physis – mit diesen Synonymen nähert Aristoteles seinen Wesensbegriff dem Lebendigen an, für welches ja die Teleologie kennzeichnend ist.

Der aristotelische Wesensbegriff steht nicht für alles, was irgendwie grundlegend oder wichtig ist. Er hat sein eigenes Profil und seine eigene Positionierung und bezeichnet den jeweiligen stabilen Charakter einer Sache, der sich prozesshaft und dynamisch durchsetzt (soweit seine Kraft reicht). Bernard Sichère hat dafür das französische Wort essor eingesetzt: Aufschwung.

Könnte man sagen, dass Aristoteles selber eine Verschiebung „vom Sein zum Leben“ andeutet?

Jedenfalls war er eher „Onto-Zoologe“ als „Onto-Theologe“.


Walter Seitter

Seminarsitzung vom 9. Jänner 2019

Nächste Sitzung am 16. Jänner 2019


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