τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 18. August 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XI

16. August 2023

 

Irgendwann, aber lange nach seiner Lukrez-Paraphrasierung (1978), hat Serres gesagt, Hiroshima, wo der Bund zwischen Wissenschaft und Zerstörung seinen größten Triumph zustandegebracht hat, habe ihn zum Philosophen gemacht, nämlich zum Philosophen, der diesen Bund nicht fortsetzen will.

Also hat der epikureische Vertrag zwischen Wissenschaft und Venus doch nicht gehalten, Serres mußte Philosoph werden und das Problem bleibt auf der Tagesordnung.

Er hat es in weiteren Büchern neu formuliert. Im September 2013 publizierte die Zeitschrift Artforum sein Gespräch mit Paul Galvez unter dem Titel „Second Nature“.

Darin spricht er davon, wie er in seinem Buch Biogée (Paris 2013) sein Denken neu gesetzt                                                                                                                                                                hat, indem er auf das Murmeln der Bäche, auf die Kühle der Brise, auf das Schweigen der Mikroben gehört habe. Damit habe er allerdings überhaupt keinen „Postismus“ in die Welt gesetzt.

Ich aber setze meine Serres-Paraphrasierungs-Protokollierung fort, um eine Lese- und Denklinie überblicken zu können, auch wenn sie nicht mehr in allen Stücken zu halten sein sollte. Beziehungsweise wenn die Geschichte nicht alle Erwartungen erfüllt hat.

 

Die Griechen haben die Demokratie erfunden und damit auch neue Machtstrategien, die allerdings nicht immer verhindert haben, daß die alte Hierarchie bestehen blieb oder daß mit den neuen Strategien neue Täuschungen zum Zug kamen.

 

Jene Griechen haben allerdings auch andere Dinge erfunden: die Dichotomie, die Trennung, die Teilung. Sie haben die Klassik erfunden: die Spezifizität der Regionen.

 

Der Olymp den Göttern, die Welt den Atomen, die Axt der Mitte.

 

Ich akzeptiere, daß diese oder jene Aussage vieldeutig ist: daß sie zumal dem Mythos, dem Heiligen, der Macht und der Physik angehört. Falls es uns heute einfällt, eine Aussage verstiegen oder schrullig zu finden, dann wegen der Griechen. Sie haben diese Einteilungen, Unterscheidungen, Klassifizierungen erfunden. Sie haben so eine sorgsame Kartographie eingeführt: Verfassung und Meteore, Mathematik und Mythos, Medizin und Geldtheorie – und so weiter.

 

Die Gräzität – das ist die Polytomie. Die Aufmerksamkeit auf jeden Übersprung in eine andere Gattung.

Die Gräzität - das ist die Dichotomie von der Theorie der Segmente zu den Vorstellungen von getrennten Welten.

 

Wären ohne diese Leistungen die Atome erfunden worden?

 

Ja, die Griechen haben überlistet, gemogelt, getäuscht und betrogen – beinahe so gut wie wir. Sie fanden nichts dabei, ein X für ein U vorzumachen oder irgendetwas als Wissenschaft auszugeben. Aber wenn sie immer nur die Taschenspielerkunst ausgeübt hätten – hätten sie dann die Geometrie erfunden?

 

Nein, das ist nicht möglich. Wenn es ein Feld gibt, auf dem man nur mit versteckten Karten nicht gewinnen kann, dann das der Mathematik.

Keiner trete da ein, wenn er Taschenspielerkünstler ist!

Und umgekehrt, jede Philosophie, jeder Diskurs, jeder Text – die vorgeben, sich nie zu täuschen, die gehören zu den Taschenspielern.

 

Das Kriterium der Wahrhaftigkeit ist das Risiko des Irrtums. Der einzige Weg zur Entdeckung ist die Bereitschaft, seinen Irrtum vor allen einzugestehen. Die Physik der Atomisten vermeidet nicht das mathematische Modell.

 

Die natürliche Konstitution, der Materalismus. Anstelle einer politischen Konvention, die über die Natur gestülpt wird. Auch wenn das transzendentale Ich durch die transzendentale Gruppe ersetzt wird, bleibt es beim Idealismus.

Die natürliche Konstitution ist letztlich die atomare Konstitution.

 

Die Menschen sind ebenso wie die Dinge aus Atomen zusammengesetzt. In ihrer Seele wie in ihrem Bewußtsein. Ihr Kollektiv ist ein Zusammengesetztes aus Zusammengesetzten. Was heißt dann – foedus?

 

Die Fundamentalphysik beschäftigt sich mit den Atomen und der Leere. Die Experimentalphysik mit den von jenen fundierten Zuständen: Gewicht, Flüssigkeit, Wärme.

 

Unterscheidung zwischen den eventa und den coniuncta.

 

Die Sprache entsteht mit den Dingen - im selben Prozess. Die Dinge erscheinen mitsamt ihrer Sprache.

 

Lukrez macht verständlich, daß die Welt verständlich ist. Mein Text, mein Wort, mein Körper, das Kollektiv, seine Zustimmungen und seine Kämpfe, die Körper, die fallen, fließen, flammen, donnern wie ich – all das ist nur ein Netz von Urelementen in Kommunikation.

 

 

Was also ist die Physik? Die Wissenschaft von den Relationen. Von Relationen zwischen Atomen unterschiedlicher Familien. Angemessenheiten, Übereinkünften, Konkurrenzen, Koitussen.

Daher der Eröffnungsgesang: als Göttin, die allein die Natur zu regieren vermag, dekretiert Venus das foedus, den Vertrag: ego coniungo vos. Venus setzt die Atome zusammen und ebenso die Zusammensetzungen. Sie ist jedoch nicht transzendent wie die anderen Götter, sie ist dieser Welt immanent. Sie ist die Relation selber. Venus sive natura sive coniuncta sive foedera. Sie inspiriert die Neigung, sie ist die Neigung. Die Deklination ist auch ein Differential der Wollust, die erste Aufgeregtheit vor der Verbindung.

 

Aphrodite allein regiert: wer hat jemals anders steuern können als mit dem Winkel des Steuerrads?

Lukrez unterscheidet sorgfältig die coniuncta, welche die stabilen Objekte erzeugen, von den eventa, Ereignissen oder Akzidenzien.

 

So führt er die Teilung zwischen der Physik und der Historie durch.

 

Gewicht, Wärme, Flüssigkeit sind die Qualitäten der Venus. Diese Verbindungen garantieren die Stabilität der Dinge, das heißt die mögliche Erfahrung. Unser Determinismus sagt dasselbe, Garant der Wiederholung.

 

Ganz anders die Ereignisse, die ein labiles Fließen von der Ankunft zum Ausgang vollziehen – nur Zutaten. Sie verbinden sich nicht in einem Koitus, bringen es nur zu einem Abgang, verfließen in einem Abfluß. Sie vergehen auf nimmer wieder.

 

Walter Seitter

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