τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 14. August 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez X

9. August 2023

 

 

Die Paraphrasierung, die Michel Serres vom Lehrgedicht De rerum natura durchgeführt hat, welches von dem römischen Schriftsteller Lukrez im 1. Jahrhundert vor Christus geschrieben worden ist, gliedert sich in acht Abschnitte:

 

PROTOKOLL

MATHEMATIKEN

ZURÜCK ZUM MODELL

ERFAHRUNGEN-EXPERIMENTE

KONDITIONEN-BEDINGUNGEN

GENESE DES TEXTES

HISTORIE

MORAL

 

Im vergangenen Sommer ist die hiesige Protokollierung meiner Serres-Lektüre bis in den Abschnitt Konditionen-Bedingungen vorgedrungen. Die epistemologischen Bedingungen „Beobachtung und Simulakren“ habe ich nachvollzogen, wobei die Simulakren sich wohl als „Erscheinungen“ übersetzen ließen.

 

Unter den kulturellen Bedingungen führt Serres an: Gewalt und Vertrag: Wissenschaft und Religion.

Serres‘ historische Epistemologie unterscheidet sich grundlegend von bisherigen Wissenschaftsgeschichten, die jeweils auf eine unwissenschaftliche „Vorgeschichte“ erst die Geschichte der Wissenschaft folgen lassen. (9)

Anstatt das Lehrgedicht als ein „unreines Gemisch aus Metaphysik, politischer Philosophie und Träumereien über die individuelle Freiheit der Dinge selber“ zu verstehen, liest er es als einen „Physik-Traktat“. (10)

 

Er stellt den Text also neben andere antike Physik-Abhandlungen, die zum Teil älter sind, über die er sich jedoch nicht äußert. Wohl aber nimmt er zur Kenntnis, daß es in der griechisch-römischen Antike mehrere divergierende Gattungen von Physik gab. Und eine davon, die epikureische in der Fassung von Lukrez, untersucht er in ihrer spezifischen Gestalt, aber auch im Hinblick darauf, ob und wie sie vom 20. Jahrhundert nach Christus aus als vergleichbare und zulässige Wissenschaft betrachtet werden könnte – wobei er das seit dem 17. Jahrhundert durchgesetzte Monopol-Paradigma der Physik in Frage stellt und dem lukrezianischen Paradigma sogar noch eine Zukunft in Aussicht stellt.

 

 

Im Abschnitt über die „kulturellen Bedingungen“ hatte Serres das 20. Jahrhundert mit der interessanten Figur des Arbeiters von Ernst Jünger aufgerufen: Herakles, dessen Kämpfe als „Arbeiten“ besungen werden.

 

Epikur hat mit diesen sogenannten Arbeiten Schluß gemacht. Er diktiert das foedus, den neuen Bund mit der Natur. Er beschließt die heraklitische Epoche, in der der Krieg die Mutter aller Dinge ist und die Physik unter dem Diktat des Mars steht.

 

Lukrez kritisiert Heraklit mit Strenge, Empedokles jedoch mit Milde: dieser andere Sizilianer hatte ja mit seiner Einführung der Freundschaft oder Liebe dem Vertrag zugearbeitet.

 

Gegen den Haß und die Zwietracht hatte sich Aphrodite fröhlich erhoben.

 

Epikur und Lukrez haben Mars aus der Physik hinausgetrieben.

 

Aber wir stellen fest:

 

Indem Descartes dekretiert hat, daß die Natur zu beherrschen und in Besitz zu nehmen sei, und Bacon definiert hat, wie man sie unterwerfen kann, ist der Bündnis-Vertrag gebrochen.

 

Herkules und Archimedes übernehmen die Regie.

Auch das objektive Wissen wird von einer Gemengelage aus vorgängigen Entscheidungen getragen.

Letztendlich wird es vom Leben oder vom Tode getragen, bewegt, orientiert.

 

Eines der schwierigsten Probleme überhaupt:

 

Die Wissenschaft wird von gesellschaftlichen, kulturellen Postulaten und Entscheidungen bedingt; andererseits ist sie universell und unabhängig von jeder vorgängigen Übereinkunft.

2 x 2 = 4, die Körper fallen gemäß Newton, die Entropie nimmt im geschlossenen System zu – auf jedem Breitengrad, egal unter welcher Klassenherrschaft.

 

Die Wissenschaft ist bedingt – aber bedingungslos.

 

Nun gibt es Bedingungen, die das von ihnen Bedingte in seinem Inhalt frei lassen.

 

Sie sind bedingend – aber nicht determinierend.

Ein kleines Zimmer, ein Sessel, ein Tisch, drei Schreibhefte, zwei Bleistifte, ein das möglich machendes monatliches Gehalt und somit die jetzige Gesellschaft mit ihrer Geschichte und ihrer Gliederung bilden ein Gefüge von Bedingungen dafür, daß ich ein Buch schreibe.

 

Dieses aber kann oder kann nicht sein: eine Abfolge von Gleichungen oder eine Zusammenstellung von Gedichten. Es kann eine Kopie sein oder eine Erfindung, es kann exakt sein oder abwegig, es kann aktuell sein oder banal.

 

Man kann jederzeit von einem Produkt auf seine Bedingungen schließen, aber nicht von den Bedingungen aufs Ding.

Dieses schlichte Prinzip hat fast die gesamte gegenwärtige Philosophie in einen retroaktionären Prozess verwandelt.

 

Ihre Redeweise, mag sie auch hellsichtig sein, ist unerschöpflich, solange sie sich auf den Weg zurück macht, um die vielen Bedingungen zu finden; aber sie ist impotent, sobald es darum geht, nach vorn zu gehen und von der Bedingung zum Ding zu gelangen. Sie nimmt daher eine unproduktive Position ein – nicht aufgrund einer theoretischen Schwäche, sondern weil sie unbestimmbar und unabschließbar ist.

 

Welche sind die Bedingungen, die bei gegebenen Produktionsbedingungen ein Produkt in eine bestimmte Richtung lenken?

 

Serres versucht, die ausschlaggebenden Bedingungen ohne Rekurs auf psychologische oder ethische Faktoren ausfindig zu machen.

 

Die Physik des Lukrez, will er gezeigt haben, ist dieselbe wie diejenige des Archimedes: aber sie ist von der martialischen in die venerische Richtung übergegangen. Die Hydrostatik ist von der Theorie der Gefäße zur Konstituierung der Biologie übergegangen. Von einer Technologie der trägen Materie zur Biologie.

 

Das Modell ist dasselbe, das Modellierte ist ein anderes. Die Teile und die Nachbarschaften sind andere geworden.

 

Ausbeutung, Ausforschung, Ausfaltung, Verteilung der Furchen, der Bahnen.

 

Die Strategie wird von der Topologie bestimmt, die im Organigramm aufgezeichnet wird – da geschieht die Weichenstellung zwischen einer martialischen und einer venerischen Neigung, Orientierung, Bewegung.[1] (142ff.)

 

Epikur ist ein Gott außerhalb aller Götter. Der neue Gott einer anderen Geschichte, der die archaischen Traditionen allesamt überholt hat. Er macht Schluß mit dem Heiligen, indem er es vollendet. Und die Epikureer, die Atheisten, verehren mit Fug und Recht den Gründer dieser Wissenschaft als einen Gott. Und mit seiner heroischen Geste, die die Heroen überbietet, führt Epikur die Geburt der Venus auf den aufgewühlten Wassern herbei. Das Wissen des foedus, der Liebe, der Freundschaft.

 

Mit der Vertreibung der Götter sind auch die antiken Wiederholungen der Opferungen hinfällig, wie René Girard gesehen hat.[2]

 

Nach Serres war das Sakrale ein Wissen von den intersubjektiven und polemischen Beziehungen der Gruppendynamik. Nach dem Sakralen wird die Natur objektiv geboren, ist die Wissenschaft möglich. (147f.)

 

Walter Seitter




[1] „Organigramm“: ein Schachtelwort bzw. eine Kurzform für „Organisationsdiagramm“, mit dem eine Arbeits- und Entscheidungsorganisation übersichtlich dargestellt wird. Und zwar eventuell so, daß die tatsächlichen Informations- und Leitungswege verzeichnet werden.

[2] René Girard (1923-2015), französischer Philosoph, der die These vertritt, das Christentum habe die Gewaltspirale, die in der Opferung eines Sündenbocks realisiert wird, aus der Welt geschafft.

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