7. Mai 2025 Nach der Verlesung des Protokolls vom 23. April 2025 (verfaßt von Rudolf Kohutek) spreche ich die Erwartung aus, daß dieses Aristoteles-Seminar nicht nur die wunderbare Gelegenheit bietet, Griechisch (gemeint ist Altgriechisch) zu lernen, wofür es hier bereits einige Beispiele gibt, sondern auch Deutsch. Und probeweise stelle ich die Frage, was ein Protokoll eigentlich ist: was denn „protokollieren“ als Tätigkeit ist. Anstatt Wikipedia zu befragen, erwarte ich Antworten von denen, die hier oder sonstwo schon protokolliert haben. Eine erste Antwort kommt von Maximilian Perstl, der sich an seine Pfadfinder-Zeit erinnert. Auch bei den Pfadfindern wird Protokoll geführt. Bei uns bestehen die Protokolle darin, daß jemand, der an einer Sitzung des hiesigen philosophischen Seminars teilgenommen hat, so eine Sitzung protokolliert. Protokollieren heißt: das, was in einer Sitzung stattgefunden hat, in seinen Grundzügen schriftlich dokumentieren. Es wird hier nicht Aristoteles protokolliert - wie sollte das gehen? So eine Definition geben können ist bereits ein Anfang von Philosophieren. Die Bereitschaft bzw. Fähigkeit, von jedweder Entität (Protokoll, Lust . . . . ) eine ordentliche Begriffsbestimmung vorzuschlagen und dann diskussiv weiter zu verfolgen, gehört zur Kernkompetenz des Philosophen. Und so eine Kompetenz zu lehren und zu üben - dazu ist jede philosophische Lehrveranstaltung, auch diese hier, verpflichtet. Bei uns besteht eine Sitzung aus der gleichzeitigen Anwesenheit von ca. drei oder mehr Personen mitsamt Vorlesen, Anhören, Lesen, Fragen und Antworten; möglicherweise heftigem Diskutieren, eventuellen Empörungen - sowie Vereinbarungen. Daran nehmen alle teil. Eine Sitzung ist ein örtlich und zeitlich bestimmtes Zusammensein bestimmter Personen. Also ein physisches Ereignis mit psychischen sowie noetischen Bestandteilen. Ein derartiges Protokollieren impliziert immer auch, daß der Protokollführer zumindest indirekt sich selber mitprotokolliert: denn er war ja dabei. Unvermeidliche Selbstimplikation. Unser derzeitiger Lesegegenstand, nämlich das aristotelische Buch „Über die Seele“, bringt es mit sich, daß die Selbstimplikation uns auch von diesem Gegenstand, also vom aristotelischen Text nahegelegt wird. Denn zu den beseelten Wesen, die da Thema sind, gehören hauptsächlich wir Menschen, und dieser Tatbestand kommt denn auch auch im jüngsten Protokoll mehrfach zum Ausdruck, indem es sich ironische oder kritische Anmerkungen erlaubt beziehungsweise auf moderne Disziplinen wie Psychologie oder Psychoanalyse verweist. Aus der erwähnten Selbstimplikation ergibt sich, daß strikte Selbstlosigkeit keinen Platz hat - die wäre ja schlicht und einfach Untätigkeit. Die Protokolle dienen dazu, gegen das Vergessen anzukämpfen. Man mag sich vielleicht noch an den ersten Satz der Metaphysik erinnern, der von einem Streben aller Menschen nach Wissen spricht. Ein philosophischer Leser dieses Satzes ist ein aktiver und er fragt sich, ob der Satz auch auf ihn zutrifft. Mit dem Abschnitt 5 wendet sich Aristoteles dem Wahrnehmungsgeschehen zu. Und der Frage, wieso ohne äußere Dinge keine Wahrnehmung zustandekommt. Wieso sie dermaßen von anderen Dingen abhängig ist - also nicht autark ist. Damit kommen wir zur Möglichkeit der Halluzination - die ist wohl nicht abhängig von äußeren Dingen und sie mag sich selber für Wahrnehmung halten. Ist aber keine. In Anlehnung an das Motto der Hermesgruppe (III, 7, 431a), wo eine trianguläre Vergleichung zwischen Wahrnehmen und Denken und Sagen vorgenommen wird, fragen wir uns, ob man die vier kognitiven Tätigkeiten Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Sagen in dieser Reihenfolge dahingehend charakterisieren kann, daß mit ihnen die Abhängigkeit von der Außenwelt mehr und mehr abnimmt. Der aristotelische Text greift auf Stücke aus der Ontologie zurück, die in anderen Schriften entwickelt worden sind: Unterschied zwischen Aktivität und Passivität und Unterschied zwischen Vermögen, Verwirklichung und Vollendung. Und er appliziert sie nun auf einen Tätigkeitsbereich, der uns als Mitwirkenden an einer philosophischen Veranstaltung nicht fremd sein dürfte. Es ist der Tätigkeitsbereich, den ich ein bißchen lateinisch als den „kognitiven“ bezeichnen würde, also denjenigen, in dem es um Erkenntnis geht. Aristoteles drückt sich so aus, daß er "den Menschen" zu denjenigen Wesen zählt, die Wissen bzw. Wissenschaft besitzen. Ich nehme an, wir zählen uns sehr wohl zu diesen Wesen, auch wenn wir geneigt sind, den Besitzanspruch nicht zu hoch zu hängen. Und er konkretisiert diese Aussage dadurch, daß er diese Qualifizierung durch die Beherrschung der „Grammatik“ - also Schreibkunst - bestimmt. Mein Übersetzer Gernot Krapinger schreibt: Schreiben und Lesen. Seit dem 20. Jahrhundert nach Christus nennt man das eine „Kulturtechnik“ - der Besitz von Wissen (oben war die Rede vom Streben nach Wissen) wird damit technisch materialisiert und auf eine historisch-geographische bzw. biographische Kontingenz zurückgeführt - Schulbildung oder nicht. (Aristoteles sieht hier wieder eine Abhängigkeit von äußeren Umständen - also die oben vermutete zunehmende Unabhängigkeit setzt sich nicht auf allen Linien durch). Der Wissende, der die dritte Stufe, die Stufe der Vollendung erreicht hat, ist derjenige, der „dieses A da“ genau versteht. Was ist mit dem gemeint? Irgendeine zufällige Entität - wie oben durch „Protokoll“ oder „Lust“ exemplifiziert. Aber wie zeigt jemand, daß er „Protokoll“ oder „Lust“ genau versteht? Nicht dadurch, daß er behauptet, er verstehe sie. So einfach ist es nicht. Aristoteles behauptet zwar, das Verstehen selber sei einfach, aber das Zeigen ist etwas anderes: nämlich ein Wahrnehmbar-Machen. Die Sache mit anderen Worten umschreiben. Und das Zustandekommen eines einfachen Verstehens ist schon gar nicht einfach. Es beruht darauf, daß durch Lernen vom Nicht-Wissen zum Wissen übergegangen worden ist, oder aber vom Rechnen- und Schreiben-und-Lesen-Können zum wirklichen Ausüben dieser Fähigkeiten. Und das dazugehörige Erleiden - also Passivsein - sei einerseits eine Vernichtung (das griechische Wort „phthora“ wird von meinem Übersetzer richtig wiedergegeben) des vorherigen Zustandes, andererseits "eher ein Bewahren“ des Vermögens zur Vollendung. Man könnte sagen: eine Steigerung des Vermögens zur vollkommenen Leistung. Da wir hier ein philosophisches Seminar sind, füge ich eine naheliegende philosophiehistorische Assoziation ein und ipso facto protokolliere ich sie gleich: diese aristotelische Zusammenfügung von gegensätzlichen Bestimmungen ist von G. W. F. Hegel in dem einen deutschen Wort „Aufhebung“ wiedergefunden und wieder formuliert worden. Wo man Wissenschaft hat, kommt es zu dem, was Aristoteles „Anschauung“ nennt und worin er keine Veränderung sehen möchte - sondern eine Zugabe oder Steigerung in Richtung auf sich selber oder auf Vollendung oder eben eine andere Art von Veränderung. Man könnte sagen, Aristoteles sucht nach Worten - findet aber nicht gleich welche. Er ist so einer wie wir. Analog meint er, das Denkende verändere sich nicht, indem es denkt - so wie der Bauende sich während seiner Bautätigkeit nicht verändert - denn er bleibt ja ein Bauender. Wo das Denken und Überlegen aus der Möglichkeit zur Vollendung übergeht, sei nicht das Wort „Belehrung“ angebracht, da sei nach einer anderen Benennung zu suchen. Wenn man aus dem Zustand der Möglichkeit heraus lernt und unter dem Eindruck von Realitäten beziehungsweise von guten Lehrveranstaltungen Wissen gewinnt, so soll man das nicht Erleiden nennen - oder man soll zwei Arten von Veränderung unterscheiden: Umschlag in Privationen oder aber Umschlag in Richtung Haben und Natur. Sobald ein Wesen gezeugt ist, verfügt es über Wahrnehmung wie über Wissen. Das Denken liegt bei einem selber, wann immer man will; das Wahrnehmen hingegen ist davon abhängig, daß Dinge da sind, die wahrgenommen werden: einzelne und äußerliche; und das gilt auch für die "Wissenschaften von den wahrnehmbaren Dingen“ (das sind die von Aristoteles bevorzugten). . Es darf hier noch angemerkt werden (der Protokollschreiber schreibt das Protokoll ein paar Tage nach der Sitzung, und da kann er im Text noch etwas sehen, was zur Sache gehört), daß Aristoteles hier von seiner professionellen Erkenntnistätigkeit spricht - und dabei das Wort „Philosophie“ durchaus vermeidet. Eher ordnet er sie den Wissenschaften zu. Wir dürfen darüber nachdenken, wie wir es damit halten wollen.