Anwendungsgebiete
der Mathematik sind laut Aristoteles Gegenstandsbereiche, die Materie (Stoff)
nicht enthalten. Welche können das sein: Zahlen und geometrische Figuren gewiss.
Aber nur diese? Das würde heißen, es gibt nur reine Mathematik, und keine
angewandte Mathematik? Aristoteles selber nimmt Wissenschaften an, die
mathematisch vorgehen und doch über reine Mathematik hinausgehen: Astronomie,
Optik, Harmonik (Musik) (997 b). Behandeln die stofflose Gegenstände? Nach
unserer Auffassung eher nicht.
Seit dem
17. Jahrhundert haben sich alle Naturwissenschaften auf Mathematisierung
eingestellt. Vereinzelte Ausnahmen davon bilden Goethes Farbenlehre, die am
Ende des 19. Jahrhunderts erfundene Ökologie oder die Medizin (die jedoch
insgesamt eher als Kunst – im antiken Sinn – zu gelten hat). Anscheinend
erobert die Mathematisierung auch solche Gebiete, die sich ihr zunächst
entziehen. Dieser Tendenz gegenüber befindet sich Aristoteles in der Position
des Bremsers. Reaktionärer Aristoteles. Oder gibt es tatsächlich eine
Sachdimension, die sich nicht mathematisieren lässt? Lässt sich die vom Stoff
her konzeptualisieren oder von bestimmten Kategorien her?
Die
Überlegung, die Aristoteles hier anstellt, und die er auch mit der Frage
verbindet, ob es insgesamt eine oder mehrere Wissenschaften gibt, lässt sich in
der heutigen Sprache als metawissenschaftlich bezeichnen und sie kann entweder
in der Selbstreflexion irgendeiner Wissenschaft oder in Wissenschaftstheorie
oder in Philosophie angesiedelt werden.
Am
Beginn des Buches III bezeichnet er sie wieder als „gesuchte Wissenschaft“ –
eine sehr bescheidene Bezeichnung, eine Wissenschaft in den Anfängen. Nicht in
allerersten Anfängen sondern in bereits seit langem, auch von vielen
unternommenen Anläufen, die jedoch noch nicht zu endgültigen oder gar von allen
(Interessenten) angenommenen Ergebnissen geführt hat.
Jetzt
möchte sich Aristoteles auf diesen defizitären, chaotischen und eher
entmutigenden Zustand „dieser“ Wissenschaft konzentrieren. Der Zustand ist so
katastrophal, dass die Weglosigkeit, Mittellosigkeit, Hilflosigkeit von
Aristoteles sogar als notwendig, also unausweichlich bezeichnet wird. Also
jetzt eine sehr pessimistische Einschätzung der Ausgangslage – im Unterschied
zum ersten Satz des ersten Buches, dessen Optimismus man ja als übertrieben
bezeichnet hat (obwohl er sich ja noch gar nicht auf das spezielle Vorhaben des
Buches bezogen hat). Aristoteles will aber nicht in diesem Pessimismus sitzen
bleiben, ihn gar genießen, sondern er macht gleich einen Anfang mit der Analyse
der unbefriedigenden Erkenntnissituation: sie zeige sich einerseits in
Meinungsverschiedenheiten, andererseits in offensichtlichen Erkenntnismängeln.
Sich auf die Aporie (Unwegigkeit) einlassen ist so unangenehm, dass Aristoteles
dafür das verschärfende Wort „Diaporie“ einführt – und nur so komme man in den
Zustand der „Euporie“: Gutwegigkeit, Wohlgelingen. Die Ausweglosigkeit ist eine
Art Blockade, ein Knoten, eine Verwirrung. Da muss man durch, dieses Durch
heißt hier Erkenntnisanstrengung, die zur Lösung des Knotens führt. Lösung
durch Erkennung – das ist der pädagogische, didaktische, ja methodische
Vorschlag, ja Imperativ, den Aristoteles hier vorträgt. Das Wort „Diaporie“
könnte man ja beinahe direkt als Zwischenstadium verstehen, wenn man „dia“ als
„durch“ übersetzen würde (was aber der Etymologie nicht entspricht).
Methode
heißt hier: den Knoten lösen, nicht zerschlagen. Das war auch die Methode,
die Aristoteles der guten Tragödie empfohlen hat: der zweite Teil der Handlung,
die Lösung, soll sich aus dem ersten Teil der Tragödie, der Knüpfung, ergeben.
In der Tragödie haben Knüpfung und Lösung nicht die wertende Zuordnung zu
„Ausweglosigkeit“ und „Gelingen“, da geht es um formal-dramaturgische
Geschehensspannung und –entspannung, wobei diese dann zumeist ins Unglück
führt. Also die Analogie zur Tragödien-Dramaturgie ist eine eher formale. Umso
erstaunlicher die Analogie in den Empfehlungen des Aristoteles. Der Umschwung
in der Tragödie soll nicht durch einen Übermachtakt göttlicher oder
maschineller Art herbeigeführt werden sondern auf derselben „technischen“ Ebene
sich vollziehen, auf der die Handlung eingefädelt worden ist: durch viele
kleinteilige pragmata in ihren gegenseitigen Verstrickungen und
Überraschungen.
Natürlich
fällt einem da auch die Fabel vom Gordischen Knoten ein, den der
Aristoteles-Schüler (aber schlechte Schüler!) Alexander gerade nicht gelöst
sondern zerschlagen hat. Er hat sich das Erkennen, das Durchschauen, das
Nachspüren, das Nach- bzw. Auseinanderziehen des Knotens erspart – und diesen
bzw. das geknotete Seil vernichtet.
Die
aristotelische Methoden-Empfehlung für den Weg zur „gesuchten“ Wissenschaft:
langsames, geduldiges, hartnäckiges, mühsames, vielleicht auch konfliktreiches
und frustrierendes Arbeiten. Nicht diktatorische Dezision, nicht genialische
Intuition, auch nicht religiöse Offenbarung – führen zur „Metaphysik“.
Wer sich
auf diese Suche begibt, hat es nicht mit einem „Knoten“ zu tun, der vor ihm
liegt. Er (sie) ist selber in diese Sache, in diese Ausweglosigkeit, verstrickt
– und daher wäre ein Zerschlagen des Knotens, also irgendeine wundersame
Sofort- und Endlösung eine Gewaltaktion gegen ihn (sie) selber: eine
Scheinlösung, eine Selbsterhöhung, die auf Selbstschädigung hinausläuft:
Selbstvernichtung des Suchenden als solchen, und damit Selbstverhinderung des
Findenden als solchen.
Die
aristotelische Einbindung des Suchenden selber in die ihn bedrückende
Verknotung liest sich auch wie ein früher Hinweis auf die lacansche Darstellung
des „Subjekts“ durch den Borromäischen Knoten (der übrigens gar kein Knoten ist
sondern eine Verkettung aus mindestens drei unabhängigen Körpern; und im
übrigen mag zwar der Gordische Knoten ein Knoten gewesen sein, da er jedoch am
Streitwagen befestigt war, handelte es sich auch da nicht um eine
Selbstverknotung sondern um eine Zusammenknotung; so auch die dramaturgische
Knüpfung).
Die
Lateiner haben für die hiesige aporetische „Metaphysik“-Methodik einen analogen
Spruch geprägt: Per aspera ad astra.
Diesen
lateinischen Titel gab Karl Wilhelm Diefenbach seinem viele Meter langen Fries,
den er mit Hugo Höppener herstellte. Darin ist von den Aspera kaum etwas zu
sehen, von den Astra viel, aber von ganz irdischen.
Walter Seitter
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