Wenn die
Ursachenketten nicht unbegrenzt lang sein dürfen, muß es – zeitlich gesprochen –
sowohl Erstursachen wie auch Letztursachen geben: diese sind Zweckursachen und
wer diese abschaffen möchte, hebt die „Natur des Guten“ auf (994b 13) bzw. er
würde dagegen verstoßen, dass „Vernunft in den Seienden“ ist.
„Keinem
Unbegrenzten kommt Sein zu.“ (994b 27) Und wenn die Arten der Ursachen der Zahl
nach unbegrenzt wären, wäre Erkennen unmöglich; denn Wissen gibt es nur mit
Erkenntnis der Ursachen – und zwar „aller“ Ursachen, folglich muß diese
Erkenntnis in begrenzter Zeit möglich sein. Die Pragmatik tatsächlich möglicher
Erkenntnis ist also mit der Annahme einer begrenzten Ursachen-Zahl fest
verbunden. Ähnlich hat Kant vom Faktum wissenschaftlicher Erfahrungserkenntnis
auf die – allerdings transzendentalen – Möglichkeitsbedigungen geschlossen. Das
aristotelische Beharren auf den Ursachen klingt seit dem 20. Jahrhundert
vollkommen veraltet. Nicht nur die Phänomenologie sondern auch deren
Lieblingsgegner, die Naturwissenschaft, haben sich davon verabschiedet. Der
einzige „Freund von Ursachen“ im 20. Jahrhundert scheint Jacques Lacan zu sein
(wiederum in Gegensatz zu Freud – dem Anhänger von „Ursprung“).
Und dann
springt Aristoteles auf eine Ebene, die noch „pragmatischeren“ Charakter zu
haben scheint, nämlich auf die Ebene, auf der er gerade jetzt selber agiert: auf
die seiner Vorlesung, deren ursprünglicher Titel zwar nicht überliefert ist.
Doch die Vorlesung zur Physik trägt den offiziellen Titel Physike akroasis und
eben dieses Wort „akroasis“ baut er nun in seinen Text ein und behauptet, dass
das Verständnis von Vorlesungen von den Gewohnheiten der Hörer abhängt – was
letztlich darauf hinauslaufen könnte, daß die Hörer nur das verstehen, was sie
eh schon kennen, was sie eh schon für richtig halten. Die Macht der Gewohnheit
(so auch der Titel eines Stücks von Thomas Bernhard) wird nach Aristoteles von
den Gesetzen bewiesen, die sich lieber ans Mythische und Kindliche halten denn
ans Erkennen. Aristoteles führt hier eine kleine Lektion aus der Rhetorik ein,
bescheinigt den Grundlagen der Politik nebenbei ein hohes man könnte sagen
populistisches, jedoch ein geringes kognitives Niveau. Aber hauptsächlich
bezieht er die Lektion aus der Rhetorik auf seine eigene professionelle
Tätigkeit, und zwar auf seine momentane Lehrtätigkeit und deren Adressaten,
nämlich seine Zuhörer. Bei denen gebe es drei Gewohnheitsrichtungen oder
Vorlieben: die Vorliebe für mathematische Beweise, die Vorliebe für
anschauliche Beispiele und die Vorliebe für die Autorität von Dichtern. Zwei
entgegengesetzte Paradigmen sind das Bestehen auf Genauigkeit in allen
Themenbereichen oder aber der Widerwille gegen Genauigkeit.
Man muss
in eines dieser Paradigmen eingeübt sein, um es konsequent befolgen zu können.
Soweit expliziert Aristoteles die Soziologie der rhetorischen Paradigmen im
Lehrbetrieb (für Hörer und Lehrer); gleichzeitig stellt er dieser
Rhetorik-Soziologie ein Wissenschafts-Ethos gegenüber, das auf Erkenntnis
setzt. Insgesamt eine erstaunliche "Erkenntnispolitikwissenschaft",
die Parteiungen, Vorlieben, Haltungen in den Erkenntnisbetrieb einführt: ein
nietzscheanisches, foucauldianisches Moment.
Schließlich
eine erkenntnistheoretische oder wissenschaftstheoretische Äußerung, mit der er
seine Kritik an alten oder platonischen Pythagoräern wiederaufnimmt. Mit
mathematischer Genauigkeit könne man nur solche Gegenstände erfolgreich
untersuchen, die keine Materie enthalten; folglich nicht die Gegenstände der
Natur. Uns bleibt die Frage, welche Aspekte der Natur (der Materie) sich der
quantitativen Untersuchung (Berechnung) entziehen mögen.
Aristoteles
unterscheidet hier zwei Wissenschaftsbereiche oder –ebenen: die physi(kal)ische
beschäftgt sich mit der Natur, die mathematische erscheint hingegen als die
„metaphysische“. Obwohl damit kaum der gesamte aristotelische Wissen(schaft)sraum
ausgemessen sein dürfte, endet so das sogenannte Buch II (in der griechischen
Zählung Buch klein alpha) der sogenannten Metaphysik.
Walter Seitter
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