Die
Ausstellung „Carl Schuch. Ein europäischer Maler“ gibt Gelegenheit, auf einen
Aspekt unsere Poetik-Lektüre zurückzukommen, weil der Anblick der Bilder
und außerdem manche Ausführungen im Katalog eine Analogie zur aristotelischen
Konstruktion einer „Handlung“ aus den pragmata nahelegen.
Carl
Schuch (Wien 1846 – Wien 1903) hat sein malerisches Arbeiten um 1870 begonnen,
als sich neben der überwiegend historistischen „Salonmalerei“ die Schule des
sogenannten Realismus schon breitgemacht hatte. Die Malerei der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts (Klassizismus, Biedermeier), die hauptsächlich den
glatten, „harten“ Oberflächeneindruck kultiviert hatte, lag also schon weit
zurück, obgleich auch diese Malweise immer noch ihre Anhänger hatte.
Schuch
malte von Anfang an Landschaften in der Art des „Realismus“, der die Oberflächen
„vergröbert“, etwas „aufraut“. Mit seinen Bleistiftzeichnungen hat er das
„Zerfasern“ ins Kleinteilig-Vielfältige noch stärker, gewissermaßen leichter
vorangetrieben: denn der spitze Bleistift liefert von Natur aus ganz feine
Wimpernhärchen. Die Tendenz zur Auflösung der harten und glatten Oberflächen –
Oberflächen der abgebildeten Gegenstände oder Bildoberflächen – gab es damals
längst bei den Malern der führenden Nationen: bei den Engländern wie John
Constable und erst recht William Turner; bei dem Franzosen Eugène Delacroix,
der als Romantiker gilt und wohl eher als Neubarocker bezeichnet werden kann,
bei Gustave Courbet, der den Begriff „Realismus“ erfunden hat, bei der Schule
von Barbizon, die den Impressionismus vorbereitete; bei den bayerischen
Realisten Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner, wo Carl Schuch erstmals
Gleichgesinnte fand.
Für Carl
Schuch ist es nun bezeichnend, dass er den Weg der malerischen Oberflächenauflösung
vorsichtig, tastend, experimentierend, in unterschiedlichen Richtungen
beschreitet. Auflösung ins Flüssige oder ins Luftige, Aufweichung oder
Zersplitterung. Sogar Rückgriffe auf barocke Kompositionen kommen vor, wo sich
die Stücke schräg gegeneinander aufspreizen oder aber irgendwohin abzugleiten
drohen. Zumeist eröffnet sich Schuch den Raum zu seinen Dramatisierungen, indem
er die Dinge mikroskopisch vergrößert, sich in ihr Inneres hineinbohrt und es
zur Schau stellt. Mit feinsten Farbabstufungen einerseits und grellen
Helldunkelkontrasten andererseits, mit ungewohntem Einsatz der „Farbe“ Weiß und
mit kurzen Pinselstrichen, die kreuz und quer gegeneinander drängen, legt er
wie ein Mikrophysiker die Partikel bloß, die anscheinend unsere Dingwelt konstituieren.
Unregelmäßig hingesetzte Farbflecken erzeugen in ihrer anscheinenden
Gegenstandsferne sehr wohl ganz bestimmte Dingeindrücke wie die von
Glasgefäßen, Silberdosen oder Ziegenkäse, von bemoosten Steinen,
Wasserspiegelungen oder Felswänden.
Carl
Schuch hat seine Malerei nicht etwa rein genialisch oder gar „unbewußt“
hingeworfen. Er war – ähnlich wie Paul Cézanne – ein lebenslänglich Lernender,
Dazu- und Weiterlernender. Er schaute sich in den großen Museen ebenso um wie
bei seinen zeitgenössischen Kollegen, mit vielen von ihnen war er befreundet.
Er las die aktuellen Bücher zur Farbentheorie und zur Kunstlehre. Er
formulierte seine Fragen und seine Anliegen auch selber und legte dabei einen
ausgesprochen reflexiven, ja wissenschaftlichen Zug an den Tag. Seine Stillleben
baute er selber auf und in der Landschaft suchte er nach solchen Ausblicken,
die ihm „möglichst einfache Natur“ liefern: „nichts als das Problem“ – nämlich
das Problem des Wie der Darstellung. Er wollte Realitätsstücke malen, wo die
einfachen Dinge das Drama der Farben aufführen: die „coloristische Handlung“,
wie er selber schreibt.
Das ist
genau der Handlungsbegriff der aristotelischen Poetik: nämlich ein
Zusammenhang, eine Verschränkung, die Franzosen sagen eine „Intrige“, die sich
aus vielen wenn man will Mikrohandlungen, Elementartaten, Molekularwirkungen
zusammensetzen. Im Falle der Malerei sind es die gebrochenen oder lauten, die
verhaltenen oder volltönenden Farben, die von den so oder so geformten
Pinselstrichen vorgetragen worden. Jeder Farbton ist eine kleine Tat, eine
kleine Tatsache, eine Erscheinungstatsache, die ihrerseits von den
Pinselstrichen ausgehen, die zweifellos Taten, Mikrotaten des Malers sind. Aber
die Gesamthandlung des Gemäldes beruht direkt auf den Mikrotatsachen des
Gemäldes. Rilke zu Cézanne: „Wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht,
wie man sie ganz allein lassen muss, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen.
Wer dazwischenspricht, wer seine menschliche Überlegung irgend mit agieren
läßt, der stört schon ihre Handlung.“
Die
Mikrotatsachen heißen bei Aristoteles pragmata. In der Dichtung handelt
es sich dabei natürlich nicht um Farbflecken sondern um Elementarteilchen der
dramatischen oder epischen Handlung, also kleinste Handlungsschritte, alle
möglichen, nein alle wirklichen Initiativen, Versuche, Zögerungen, erwünschte
und unerwünschte Wirkungen, Zufälle, einfach alle Vorkommnisse, woher sie auch
kommen und wozu sie auch führen. Sie führen zu, sie wirken zu einer
Gesamthandlung zusammen, die gerade nicht irgendwelchen menschlichen Absichten
entsprechen muss (die allerdings auch eingeflossen sein müssen).
Innerhalb
des Dichtwerks folgen die Elementarteilchen, die Aristoteles pragmata nennt,
auseinander. Also sind pragmata Ursachen für pragmata. Wie passt
das zur Lehre von den vier Verursachungslinien Natur oder Kunst (Denken) oder automaton
oder tyche? In Natur oder Kunst sind die Ursachen, vor allem die Wirk-,
aber auch die Formursachen Substanzen, eben der Vater oder der Künstler.
Natürlich gilt das auch für die hier erwähnten Kunstwerke: Maler oder Dichter.
Der Maler ist der Hauptverursacher für sein Werk. Aber das Werk ist ja ein
komplexes Gebilde, innerhalb dessen eigene Verursachungsverhältnisse erzeugt
werden, die ihrerseits wieder Verursachungsverhältnisse „nachahmen“ also
darstellen sollen. Wenn Carl Schuch Bäume im Wald malt, so malt er auch die
Schatten, die von den Bäumen geworfen also erzeugt werden. Seine spezielle
Malkunst möchte sich aber nicht mit dieser bekannten oder normalen Verursachung
begnügen, sie möchte in die Mikrophysik des Schattens eindringen und diese
offenlegen; ganz bestimmte Pinselstriche sollen kausal so zusammenwirken, dass
sich gerade dieses Schattendunkel ergibt. Nach Aristoteles sind die pragmata
Akzidenzien und wenn Akzidenzien ursächlich wirken, kommen wir in den
Bereich der beiden „unnormalen“ Ursachen: automaton oder tyche. Wirken
die Elementarteilchen, wenn sie ursächlich wirken, eher „automatisch“ oder
„tychisch“?
Walter Seitter
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