Das Buch IV hat eine
merkwürdige Struktur. Auf den ersten Seiten wird eine vollkommen neue Version
der „gesuchten Wissenschaft“ bzw. der Ersten Philosophie entworfen: Betrachtung
des Seienden als seienden mit Vervielfältigung des Sagens des Seienden und
Nennung einiger Seinsmodalitäten, von denen nur die erste, nämlich das Wesen,
als Ursache oder Prinzip gilt und zwar als immanentestes Prinzip; die anderen
Seinsmodalitäten umfassen die Akzidenzien sowie vom Wesen eher noch weiter
entfernte Modalitäten – bis hin zu dessen Negation. Anschließend Aufstellung
des allgemeinsten Axioms, das sich auch auf alle Seienden bezieht, aber nicht
eine Seinsmodalität ist sondern ein Gesetz fürs Sprechen und als solches ein
höchstes Prinzip. Dann geht es seitenlang um die Beweisführung für dieses Axiom
oder vielmehr um die Widerlegung seiner Negation. Hier wird die Negation
ausgeschlossen und im Zuge dieser Ausschließungsbemühung findet eine Art Kampf
gegen die Überwältigung des Wesens durch die Akzidenzien statt. In dieser
dialektisch-kritisch-polemischen und nicht enden wollenden Widerlegung
insistiert Aristoteles auf der Unterordnung der Akzidenzien, denn nur mit ihr
lassen sich die Bestimmtheit des Sprechens und die Bestimmtheit des Wollens
aufrechterhalten. Ein wichtiges Mittel zur Vermeidung des Nicht-Sprechens im
Sprechen sei die Unterscheidung, mit der jeweils bestimmt wird, wovon die Rede
ist.
In der Folge wird der Sophist
Protagoras (490-411) zum Hauptvertreter der bekämpften Lehre erklärt,
derzufolge es nur Meinungen gibt, welche alle wahr seien.
Nun fand gestern ein Vortrag
von Thomas Buchheim (München) zum Thema „Der Mensch als Maß der Dinge. Das
Protagoreische Prinzip und seine Aufnahme bei Aristoteles“ statt. Darin wurde
dargestellt, daß die Ansichten des Protagoras, die als relativistisch gelten,
mit seinem sogenannen Homo-Mensura-Satz zusammenhängen, der lautet: „Der Mensch
ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der Nichtseienden, daß sie
nicht sind.“ Protagoras war für Aristoteles ein längst bekannter „Fall“, denn
Platon hatte sich in mehreren Dialogen ausführlich mit ihm auseinandergesetzt
und ihm den Deus-Mensura-Satz entgegengesetzt.
Nach Buchheim hat sich
Aristoteles der sokratisch-platonischen Gegenstellung zu Protagoras nicht
einfach angeschlossen. Vielmehr hat er die protagoreische Errungenschaft des
Messens des Seienden und des Nichtseienden zum Prinzip seiner Ontologie gemacht
und er hat sogar den protagoreischen Vorrang des Meinens und des Scheines in
gewissem Sinn übernommen, nämlich als Ausgangsebene für die Bemühungen um
Wahrheit.
Walter Seitter
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Sitzung vom 14. Mai 2014
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