Lese ich weiter, so sehe ich
(es ist ein Glück wenn man auch beim Lesen etwas sieht, denn dann kann man vom
Gelesenen berichten, ohne die gelesenen Wörter wiederholen zu müssen), daß
Aristoteles nicht aufhört, sein Axiom, den Satz vom auszuschließenden
Selbstwiderspruch, zu erläutern bzw. zu verteidigen, von dem er behauptet hat,
es gehöre zum Seienden als seienden und es sei das allersicherste Prinzip (und
zwar ein Sag-Prinzip) und es sei nur indirekt beweisbar (welchen Beweis
Aristoteles gerade mit der Einbeziehung der Widerrede führt). Als theoretischen
Gegner nannte Aristoteles zunächst, wenn auch nur vorsichtig, den berühmten
vorsokratischen Philosophen Heraklit. Dann nennt er den theoretischen Gegner
namenlos „Gegenredner“ und macht ihn zwischendurch lächerlich durch den
Vergleich mit der Pflanze. Sodann bezieht er sich auf „viele der
Naturphilosophen“. Seine Ausführungen halten sich auf der Ebene der Logik, ja
der Linguistik und insofern heben sie sich einigermaßen deutlich von der Einführung
der Forschungsrichtung, die ich als „Ontologie“ bezeichne, ab. Die recht
polemische, aber auch immer detaillierter und ausholender werdende
Argumentation versteift sich darauf, die bekannte aristotelische, wohl auch
schon platonische Unterscheidung zwischen Wesen und Akzidenzien zu verteidigen.
Dem Gegner wird unterstellt, sich in der Unzahl der Akzidenzien zu verlieren,
das Wesen in Akzidenzien aufzulösen. Die Vertreter der gegenteiligen Ansicht
werden dann mit dem Relativismus des bekannten Sophisten Protagoras
identifiziert und gleich darauf mit einer kosmologischen These des
Vorsokratikers Anaxagoras, derzufolge irgendwann „alles zusammen war“. Eine
solche Unbestimmtheit könne nur „der Möglichkeit“ (dynamei) nach
zutreffen, nicht der „Vollendung“ nach (entelecheia)(1007b 28). Hier
liefert Aristoteles eine Unterscheidung, mit der er sich – ich würde sagen:
wieder – auf die Ebene seiner Ontologie begibt. Zwei Seinsmodalitäten, die er
anfangs gar nicht erwähnt hatte, wiewohl sie zum Kernbestand des
aristotelischen Denkens gehören. Aber da ist gleich ein zweites, ein
untergeordnetes „wiewohl“ am Platz. Denn gewöhnlich wird dem Vermögen, der
Möglichkeit (dynamis) der Gegenbegriff der Tätigkeit oder der
Wirklichkeit (energeia) gegenübergestellt. Hier aber unterscheidet
Aristoteles Vermögen und Vollendung – um seinen theoretischen Gegnern halb doch
recht geben zu können. In 1009a 35 wird dieselbe Unterscheidung dazu
herangezogen, um die Grundaussage seiner theoretischen Gegner, daß nämlich
dasselbe auch sein Gegenteil sein könne, in gewisser Weise zu rechtfertigen. In
gewisser Weise, das heißt durch Zerlegung (diairesis) (1008a 27). Die
Widerlegung und Zurückweisung der gegnerischen Ansichten, die Heraklit und
Anaxagoras, vor allem aber und immer wieder dem Protagoras zugeschrieben
werden, würde ich doch von der eigentlich ontologischen Ebene unterscheiden.
Beinahe habe ich den Eindruck von einer denkpolizeilichen Veranstaltung, mit
der Aristoteles die ontologische Vervielfältigung des Seienden wieder eindämmen
möchte – als würde er Angst vor der eigenen Courage bekommen. Der weitaus
größte Teil des Buches IV ist diesen Widerlegungen gewidmet, in deren Zug nach
dem sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch auch der sogenannte Satz
vom ausgeschlossenen Dritten und schließlich auch eine Empfehlung für das
Dritte, nämlich die mittlere Position zwischen den Extremen, aufgestellt
werden. Andererseits werden en passant doch auch eigentlich ontologische
Begriffe eingeführt: nach Vermögen und Vollendung auch Wahrheit und
Erscheinendes, Unbewegtheit und Bewegung.
Walter Seitter
--
Wien, am 2. Mai 2014
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