Bericht aus einer laufenden Unternehmung
Was immer man unter
„Metaphysik“ verstehen mag – eine Teildisziplin der Philosophie, und zwar die
höchste, oder eine verschämte Umschreibung für religiöse, gar göttliche Dinge:
eine gute Presse hat sie nicht. Bei den Philosophen gilt Immanuel Kant
(1724-1804) als derjenige, der ihr schon vor über 200 Jahren den Todesstoß
versetzt haben soll (obwohl er sich 1797 zu einer Metaphysik der Sitten aufgerafft
hat). Man sagt der Metaphysik ein gespanntes Verhältnis zu den empirischen
Wissenschaften nach, von denen allein zuverlässige Auskunft über das, was
wirklich ist, erwartet werden kann. Metaphysik versteige sich in Spekulationen,
die im Grunde genommen jeder für sich anstellen könne. Beide Teile des Wortes
stehen jeweils für eine „Richtung“, welche das damit Gemeinte als wenig
attraktiv erscheinen lassen: meta lässt an „Transzendenz“ oder an
„jenseits“ denken, also an etwas, was weit weg ist und uns nicht betrifft; und physik
erinnert zwar an die von allen geschätzte Naturwissenschaft, aber in Verbindung
mit meta überwiegt die Konnotation des „Gegebenen“, des „Vorgegebenen“,
das sich unserer Freiheit, unserem Handelnkönnen, unserer ersehnten
Kreativität widersetzt. Auf diese Weise
hat sich die Bedeutung von „Metaphysik“ in ein Eck verschoben, wo sich das
Entfernte und Abstrakte mit dem Leblosen und dem Nicht-Pragmatischen trifft.[1]
Anstatt diesem so angedeuteten
Problemkomplex direkt zu Leibe zu rücken, begnüge ich mich damit, von einem
derzeit laufenden Vorhaben zu berichten, das sich einerseits mit dem wohl
wichtigsten Quellentext der gesamten Metaphysik-Problematik, nämlich mit dem
aristotelischen Buch namens Metaphysik, beschäftigt, und sich
andererseits durch eine sehr schlichte, fast laienhafte, aber auch bewusst
langsame und auseinandergezogene Vorgangsweise auszeichnet.
Seit 2011 lese ich in Wien mit
der „Hermesgruppe“, einer Gruppe aus circa fünf Personen, jeweils am
Mittwochnachmittag, das genannte aristotelische Buch. Es handelt sich um eine
nicht sehr homogene Gruppe: nicht alle sind studierte Philosophen, nicht alle
haben bereits Griechisch gelernt. Jede Person trägt das Ihre zum gemeinsamen
Lesen bei: ihre Kenntnisse und ihre Interessen, ihre bevorzugte Textausgabe,
ihre Diskussionsbeiträge. Wir ziehen gleichzeitig einige unterschiedliche
Übersetzungen (auch englischsprachige und neugriechische) heran und schauen im
Falle von schwierigen oder besonders interessanten Stellen in den griechischen
Text hinein, schlagen notfalls auch im Griechisch-Lexikon nach. Lesen und
Besprechen sind die beiden Haupttätigkeiten an den Mittwochen. Das Besprechen
bzw. Diskutieren reicht vom philologischen Verstehenwollen bis zum
philosophischen Nachvollziehen, Vergleichen, Infragestellen, wobei auch andere
Disziplinen sowie persönliche Erfahrungen eingebracht werden können.
Philosophisches Vergleichen bezieht sich etwa auf Positionen anderer Philosophen
der Vergangenheit oder der Gegenwart; andere Disziplinen werden herbeizitiert,
weil Philosophieren, das sich total abschotten würde, steril zu werden droht;
persönliche Erfahrungen kommen aus vielerlei Bereichen, sei es aus
Berufswelten, aus Kunsterfahrungen, aus Reisen an die Stätten antiker
Philosophie.
Das breite Spektrum des
gemeinsamen Assoziierens mag dem streng akademischen Charakter unserer
Lektüretätigkeit abträglich sein. Noch stärker wird dieser wohl dadurch in
Frage gestellt, dass wir unser „Lesen in der Metaphysik“ jedenfalls
zunächst einmal von Sekundärliteratur fast freigehalten haben. Denn es war
unsere Ambition, dass wir selber uns mit dem Text selber konfrontieren, anstatt
uns von vornherein von der riesigen Rezeptions- und Interpretations-,
Verständnis- und Verkennungsgeschichte verschlingen zu lassen.
Anstatt uns von dieser
aufhalten zu lassen, bauen wir selber die Umwege und Seitenwege ein, die uns
daran hindern, allzu schnell verstehen zu wollen.
Wir machen uns unser Lesen
selber langsam: in jeder Sitzung wird höchstens eine Seite des aristotelischen
Textes durchgenommen- dabei handelt es sich um ziemlich kleine Seiten, nämlich
jeweils eine Spalte der sogenannten Bekker-Zählung (ca. 1750 Zeichen).
Da wir von den universitären
Gepflogenheiten immerhin die langen Ferien übernehmen, kommen wir im Jahr auf
höchstens dreißig Sitzungen und so haben wir in den drei Jahren 2011 bis 2013
die ersten drei der insgesamt vierzehn Bücher der Metaphysik gelesen.
Was waren die Erfahrungen
dieser Lektüre? Der Text legt sich nicht von Anfang an auf einen bestimmten
Gegenstand fest, den er etwa „Metaphysik“ nennt. Er skizziert eine
Anthropologie der Erkenntnis und nur allmählich deutet er eine Thematik an, die
man mit „Metaphysik“ assoziieren kann – ohne dass dieser Begriff jemals
vorkommt. Er selber umschreibt sie ganz pragmatisch mit „gesuchte Wissenschaft“
und setzt für diese einmal diese und dann wieder eine andere Bezeichnung ein.
Das zweite und das dritte Buch setzen jeweils neu ein – immerhin so, dass
allmählich ein durchgehender roter Faden erkennbar wird. Man hat es offenbar
mit einer Suchbewegung zu tun, die halb diskontinuierlich, halb kontinuierlich,
halb zickzackförmig, halb geradlinig voranschreitet. In der Mitte des vierten
Lesejahres sind wir immerhin in der Mitte des vierten Buches angelangt, das die
größte Überraschung bereitgehalten hat. Das Programm einer Suche nach den
letzten (Aristoteles sagt: nach den ersten) Ursachen wird plötzlich ersetzt
durch das Programm einer ganz immanentistischen Betrachtung und
Differenzialanalyse dessen, was überall und jederzeit vorliegt. Gleichzeitig
verschärft sich sein polemischer Ton gegen philosophische Konkurrenten, es
intensiviert sich der Nahkampfcharakter in der Auseinandersetzung.
Unsere ein bisschen laienhafte
und dennoch umständliche, jedenfalls sehr auseinandergezogene Lese- und
Besprechungstätigkeit in der Gruppe nenne ich jetzt einmal ein bisschen
bombastisch „Wissenschaftsperformanz“, um ihren Aktionscharakter zu
betonen, der durch die Langsamkeit spürbar wird und spürbar bleibt: die
Performanz verschwindet nicht gegenüber etwelchen Resultaten, die sich
wissenschaftlich bestätigen oder widerlegen lassen.
Auf der anderen Seite scheint
sie auf die Resultate, also auf den Eindruck, den wir vom Gegenstand, vom
aristotelischen Text, gewinnen, durchzuschlagen. Unsere Vorgangsweise steckt
den Gegenstand gewissermaßen an: und zwar mit Langsamkeit, mit Prozeduralität,
mit Bewegungscharakter: er erscheint als Suchbewegung mit erkennbarem
Bewegungsprofil.[2]
Mit Wissenschaftsperformanz
meine ich also zunächst unsere eigene Tätigkeit, in der immerhin zwei
Wissenschaften zum Einsatz kommen, die Philosophie und die Philologie. Damit
will ich nicht den Anspruch auf allerhöchste Wissenschaftlichkeit erheben –
sondern eher im Gegenteil das Bekenntnis zu einem Wissenschaftstun, das seine
eigenen Kontingenzen nicht vertuscht: also zur Seite der „Schaftlichkeit“.
Ich würde diese
Bestandsaufnahme in Sachen Metaphysik-Lektüre wohl nicht erbringen können, wenn
unserer Lektüre nicht schon ein größerer Vorlauf vorangegangen wäre. Von 2007
bis 2010 hat dieselbe Hermesgruppe ein sehr anderes Buch von Aristoteles
gelesen: die kleine Poetik haben wir in einem ähnlichen Tempo gelesen,
nämlich in vier Jahren. Und da wir wie auch jetzt schon damals jede
Mittwoch-Sitzung in einem Protokoll dokumentiert, genauer gesagt:
mitgeschrieben, miterzählt haben, konnte aus den Protokollen eine größere
Nachschrift oder Nacherzählung gemacht werden, und die ist auch in Form von
zwei Büchern erschienen: Poetik lesen 1 (Berlin 2010), Poetik lesen 2 (Berlin
2014).[3]
Für diese Nachschrift präge
ich den Begriff „Wissenschaftserzählung“. Erzählung von Wissenschaft als
Machenschaft mitsamt Resultaten. Erzählt worden sind in erster Linie unsere
Tätigkeiten, also das Lesen und Besprechen, in zweiter Linie die Thematik
unseres Lesens und Besprechens – also die aristotelischen Fragestellungen und
Darlegungen und deren Themen: also die Dichtung, die Tragödie, die Komödie, das
Epos mit ihren jeweiligen Narrativitäten.
Die Wissenschaftserzählung
verhält sich zur Wissenschaftsperformanz ungefähr wie Signifikant zu Signifikat
und obwohl in diesem Fall dem Signifikat ein gewisser Vorrang nicht
abgesprochen werden muß, hat doch auch die (von Lacan so betonte) Umkehrung
ihren Sinn: eine dramatisierende Erzählung wird ihrem Gegenstand, auch wenn der
„nur“ aus Wissenschaft besteht, eine Performativität entlocken, die man ihm gar
nicht zugetraut hätte.
Unsere Metaphysik-Lektüre
baut auf Poetik lesen auf, insofern dort unsere Wissenschaftsperformanz
in einer Wissenschaftserzählung bestätigt worden ist. Nun erproben wir für die Metaphysik
eine analoge Dramatisierung und Narrativisierung. Je nach dem, wie sie
gelingen, wird man jenes berühmte Buch in Hinkunft anders lesen können.
Walter Seitter
[1] Eine Übersicht über
die Stadien und Motive der Metaphysik-Kritik und des Metaphysik-Überdrusses
findet sich bei Rémi Brague: Les ancres
dans le ciel. L’infrastructure métaphysique (Paris 2011): 15ff.
[2] Ohne die
philologischen Fragen, die sich an die Redaktion der Metaphysik anschließen lassen, auch nur zu berühren, lässt sich
doch vermuten, dass eine Lesezeit von drei Jahren für drei Bücher den
seinerzeitigen Entstehungszeiten immerhin nahekommen könnte: analogia temporum.
[3] Nunmehr gibt es also
die aristotelische Poetik wieder in zwei Büchern – nur dass jetzt beide
erhalten und sogar erhältlich sind. Das grausame Schicksal, das Umberto Eco im Namen der Rose dem seinerzeitigen
Zweiten Buch zugeschrieben hat, muß kein endgültiges sein.
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