Wir kommen auf die Poetik
lesen-Vorstellung von vorgestern zu sprechen. Und weil unser jetziges In
der Metaphysik lesen gewissermaßen eine Fortsetzung von jenem ist, erwähne
ich die zwei Begriffe, auf die ich diese Tätigkeit neulich gebracht habe:
„Wissenschaftsperformanz“ ist
ein etwas gespreizter Begriff für jedwede wissenschaftliche Tätigkeit. Ich
verwende ihn absichtlich für unsere bescheidenen, aber geduldigen Lese- und
Diskussionssitzungen jeweils am Mittwoch, die wir zuerst vier Jahre lang
(2007-2010) der Lektüre der aristotelischen Poetik gewidmet haben. Eine
Tätigkeit, die allgemein als wissenschaftliche gelten darf, weil wir zwei
Wissenschaften zum Einsatz bringen: Philologie und Philosophie. Das sind
ausgerechnet (bzw. zufällig) die beiden Wissenschaften, die mit „Philo-“
beginnen, weil sie sich selber als Liebhabereien verstehen: Liebe zu den Wörtern
und Liebe zur Weisheit.
Wir lesen den Text in deutscher
Sprache, schauen aber immer wieder in den griechischen Text hinein, um einzelne
Wörter zu prüfen, Übersetzungsfragen zu besprechen. Ohnehin verwenden wir
verschiedene Übersetzungen, auch solche in die englische Sprache (mit denen man
dem „globalen“ Aristoteles von heute nahekommt). Und „philosophisch“ möchte
unsere Lektüre sein, weil die gelesenen Texte dieser Disziplin angehören (die
Poetik nicht unbedingt der „reinen“ Philosophie) und weil wir selber
biographisch der Philosophie näher stehen oder ihr nähertreten wollen. Damit
soll auch gesagt sein, dass unsere Tätigkeit das Philosoph-Werden befördern
kann (das Griechisch-Lernen ebenso).
Der Begriff „Performanz“ wird
hier im Sinn von „performativen“ Äußerungen im Unterschied zu „konstativen“
Äußerungen verwendet. Nach John L. Austin bewirken performative Äußerungen
unmittelbar etwas, ohne wahr oder falsch sein zu müssen. Unter
Wissenschafts-Performanz verstehe ich, dass mit irgendwelchen Akten überhaupt
Wissenschaft gemacht wird (und nicht etwa vordringlich Unterhaltung, Wirtschaft
oder Religion), in unserem Falle, dass Philosophie gemacht wird. Daß bestimmte
Thesen, Fragestellungen, Problematisierungen erörtert werden, wobei in unserem
Falle das Performative auch durch eine bestimmte Art von Interdisziplinarität,
aber auch Undiszipliniertheit, erreicht werden mag. Ich meine damit so etwas
wie „Fröhliche Wissenschaft“ (Friedrich Nietzsche). Allerdings sollen dann doch
auch konstative (oder propositionale) Aussagen zustande kommen, die wahr oder
falsch sein können bzw. wahr sein sollen. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte
man nicht von Wissenschaft oder Philosophie sprechen.
Wir schauen in die
Philosophiegeschichte zurück und fragen, welche Philosophen welchem Typ von
Äußerungen zuneigen. Extrem performativ: Diogenes; ziemlich performativ:
Sokrates, Nietzsche; überwiegend konstativ Aristoteles, Kant.
„Wissenschafts-Erzählung“
nenne ich den Bericht von Wissenschafts-Performanzen, und zwar einen solchen
Bericht, der gerade das Performanzhafte betont oder steigert. Eine solche
Steigerung ist nun gerade dann angebracht – oder aber unangebracht? – wenn die
Performanz hauptsächlich in Lektüre von Texten des nicht sehr aufgeregten
Aristoteles besteht. Ich glaube, sie ist eher angebracht. Schon die Lektüre
sollte den Aristoteles-Text „dramatisieren“ – und zwar so, dass die im Text
schlummernde Dramatik aufgeweckt wird. Das geht am leichtesten dann, wenn der
Text selber sich zu Kritik, Polemik aufrafft. Sollte aber auch gelingen, wenn
es um rein „sachliche“ Spannungen, Sprünge, Überraschungen geht. Beispiel: der
Sprung zur „Ontologie“ im IV. Buch der Metaphysik.
Die Wissenschafts-Erzählung
der Aristoteles-Protokolle verläuft simultan auf zwei Zeitebenen: Zeit der
Abfassung der Aristoteles-Texte: seine Gedanken, seine Wörter, seine Gegner.
Und Zeit unserer Lektüre: was in dieser Sitzung gelesen und gesagt worden ist,
was dieser Kommentator dazu meint, wie man heute das Wort „Ontologie“
verwendet, wie es jetzt um das Lykeion in Athen steht. Es geht also auch um eine
„Aktualisierung“ – die jedoch nur möglich ist, wenn man Aristoteles in seiner
Zeit „aktualisiert“ und jene Aktualität vorsichtig in die heutige Situation
einrückt. So hat Barry Smith einen Aufsatz über die mögliche Fortsetzung der
aristotelischen Ontologie (im Sinn von „Dingkunde“) „Aristoteles 2002“ genannt.[1]
Nächste Sitzung am Mittwoch,
dem 8. Oktober 2014.
Walter Seitter
--
Sitzung vom 25. Juni 2014
[1] In: Th. Buchheim, H.
Flashar, R. A. H. King (Hg.): Kann man
heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? (Hamburg 2002). Hier zum PDF-Download von Barry Smiths Aristoteles 2002:
https://www.academia.edu/2824007/Aristoteles_2002
https://www.academia.edu/2824007/Aristoteles_2002
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