τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 26. Juni 2014

In der Metaphysik lesen 2014 / Poetik lesen 2007–2010

Wir kommen auf die Poetik lesen-Vorstellung von vorgestern zu sprechen. Und weil unser jetziges In der Metaphysik lesen gewissermaßen eine Fortsetzung von jenem ist, erwähne ich die zwei Begriffe, auf die ich diese Tätigkeit neulich gebracht habe:
„Wissenschaftsperformanz“ ist ein etwas gespreizter Begriff für jedwede wissenschaftliche Tätigkeit. Ich verwende ihn absichtlich für unsere bescheidenen, aber geduldigen Lese- und Diskussionssitzungen jeweils am Mittwoch, die wir zuerst vier Jahre lang (2007-2010) der Lektüre der aristotelischen Poetik gewidmet haben. Eine Tätigkeit, die allgemein als wissenschaftliche gelten darf, weil wir zwei Wissenschaften zum Einsatz bringen: Philologie und Philosophie. Das sind ausgerechnet (bzw. zufällig) die beiden Wissenschaften, die mit „Philo-“ beginnen, weil sie sich selber als Liebhabereien verstehen: Liebe zu den Wörtern und Liebe zur Weisheit.
Wir lesen den Text in deutscher Sprache, schauen aber immer wieder in den griechischen Text hinein, um einzelne Wörter zu prüfen, Übersetzungsfragen zu besprechen. Ohnehin verwenden wir verschiedene Übersetzungen, auch solche in die englische Sprache (mit denen man dem „globalen“ Aristoteles von heute nahekommt). Und „philosophisch“ möchte unsere Lektüre sein, weil die gelesenen Texte dieser Disziplin angehören (die Poetik nicht unbedingt der „reinen“ Philosophie) und weil wir selber biographisch der Philosophie näher stehen oder ihr nähertreten wollen. Damit soll auch gesagt sein, dass unsere Tätigkeit das Philosoph-Werden befördern kann (das Griechisch-Lernen ebenso).
Der Begriff „Performanz“ wird hier im Sinn von „performativen“ Äußerungen im Unterschied zu „konstativen“ Äußerungen verwendet. Nach John L. Austin bewirken performative Äußerungen unmittelbar etwas, ohne wahr oder falsch sein zu müssen. Unter Wissenschafts-Performanz verstehe ich, dass mit irgendwelchen Akten überhaupt Wissenschaft gemacht wird (und nicht etwa vordringlich Unterhaltung, Wirtschaft oder Religion), in unserem Falle, dass Philosophie gemacht wird. Daß bestimmte Thesen, Fragestellungen, Problematisierungen erörtert werden, wobei in unserem Falle das Performative auch durch eine bestimmte Art von Interdisziplinarität, aber auch Undiszipliniertheit, erreicht werden mag. Ich meine damit so etwas wie „Fröhliche Wissenschaft“ (Friedrich Nietzsche). Allerdings sollen dann doch auch konstative (oder propositionale) Aussagen zustande kommen, die wahr oder falsch sein können bzw. wahr sein sollen. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte man nicht von Wissenschaft oder Philosophie sprechen.

Wir schauen in die Philosophiegeschichte zurück und fragen, welche Philosophen welchem Typ von Äußerungen zuneigen. Extrem performativ: Diogenes; ziemlich performativ: Sokrates, Nietzsche; überwiegend konstativ Aristoteles, Kant.
„Wissenschafts-Erzählung“ nenne ich den Bericht von Wissenschafts-Performanzen, und zwar einen solchen Bericht, der gerade das Performanzhafte betont oder steigert. Eine solche Steigerung ist nun gerade dann angebracht – oder aber unangebracht? – wenn die Performanz hauptsächlich in Lektüre von Texten des nicht sehr aufgeregten Aristoteles besteht. Ich glaube, sie ist eher angebracht. Schon die Lektüre sollte den Aristoteles-Text „dramatisieren“ – und zwar so, dass die im Text schlummernde Dramatik aufgeweckt wird. Das geht am leichtesten dann, wenn der Text selber sich zu Kritik, Polemik aufrafft. Sollte aber auch gelingen, wenn es um rein „sachliche“ Spannungen, Sprünge, Überraschungen geht. Beispiel: der Sprung zur „Ontologie“ im IV. Buch der Metaphysik.
Die Wissenschafts-Erzählung der Aristoteles-Protokolle verläuft simultan auf zwei Zeitebenen: Zeit der Abfassung der Aristoteles-Texte: seine Gedanken, seine Wörter, seine Gegner. Und Zeit unserer Lektüre: was in dieser Sitzung gelesen und gesagt worden ist, was dieser Kommentator dazu meint, wie man heute das Wort „Ontologie“ verwendet, wie es jetzt um das Lykeion in Athen steht. Es geht also auch um eine „Aktualisierung“ – die jedoch nur möglich ist, wenn man Aristoteles in seiner Zeit „aktualisiert“ und jene Aktualität vorsichtig in die heutige Situation einrückt. So hat Barry Smith einen Aufsatz über die mögliche Fortsetzung der aristotelischen Ontologie (im Sinn von „Dingkunde“) „Aristoteles 2002“ genannt.[1]

Nächste Sitzung am Mittwoch, dem 8. Oktober 2014.

Walter Seitter


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Sitzung vom 25. Juni 2014 


[1] In: Th. Buchheim, H. Flashar, R. A. H. King (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? (Hamburg 2002). Hier zum PDF-Download von Barry Smiths Aristoteles 2002:
https://www.academia.edu/2824007/Aristoteles_2002

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