Der kleine Ausflug in die
Kosmologie, den Aristoteles da einschiebt, läßt daran erinnern, daß die
Platzierung der Erde im Zentrum des Weltalls wohl eine zweideutige Platzierung
gewesen ist, sodaß ihre Aufhebung durch die „Kopernikanische Wende“ nicht
eindeutig als „Narzißmus-Kränkung“ gesehen werden muß (wie Sigmund Freud
nahegelegt hat). Einerseits hat diese Platzierung dem von den Menschen
bewohnten Planeten sehr wohl eine ausgezeichnete Position zugewiesen:
jedenfalls in einem geometrischen Sinn. Ob der Erde damit die Funktion
zugewiesen wurde, das gesamte – kugelförmige - Weltall zu halten, zu
stabilisieren oder gar zu konstituieren (wie man mit dem Zirkel einen Kreis vom
Mittelpunkt aus konstruiert), sei dahingestellt. Aristoteles erwähnt in unserer
Stelle keineswegs so eine fundierende Rolle der Erde. Er betont vielmehr die
andere Seite: die Erde, also die Menschenumwelt, ist nur ein winzig kleiner Ort
im Weltall und noch dazu der qualitativ schwächste, ja minderwertigste: weil da
die Bewegung, Veränderung, vorherrscht. Die Mitte der Gesamtkugel, ist deren
„weichster“, unstabilster Teil.
Das wiederum entspricht ganz
grob gesprochen ein bißchen unserer heutigen Auffassung von der Erdkugel, die
im Inneren flüssig-heiße Schichten birgt. Doch im Moment geht es um die
Abwertung der Mitte und diese wurde im geozentrisch-christlichen Weltbild damit
auf die Spitze getrieben, daß im Innersten der Erde der theologische Ort
„Hölle“ angesetzt worden ist, wo Feuer und Superlativ des Bösen lokal
koinzidieren. So beispielsweise in Dantes Göttlicher Komödie. Die Hölle
als geometrisches Zentrum der gesamten Welt. Konstitutiver Mittelpunkt?
Davon ist natürlich bei
Aristoteles keine Rede, weil er die Erde von jeder theologischen Konnotation
frei hält (während er mit der äußersten Himmelssphäre anders verfährt).
Hingegen hat die griechische Volksreligion die Erde sehr wohl mit theologisch
relevanten Zonen ausgestattet: Orte von Theophanie.
Aristoteles kommt dann gleich
wieder auf seine Sophisten (und Naturphilosophen?) zu sprechen und weist ihnen
nach: wenn sie – dem Satz vom Widerspruch offensiv widersprechend - behaupten,
daß alles zugleich sei und nicht sei, dann müßten sie, ob sie nun wollen oder
nicht, eigentlich annehmen, daß sich alles in Ruhe befinde, weil bereits
„alles“ – nämlich jedwedes und jedes Gegenteil davon – realisiert sei. Hier
treibt Aristoteles ironisch oder kritisch oder polemisch den Begriff „alles“
auf die Spitze (Mathematiker würden da vielleicht von unterschiedlichen
„Mächtigkeiten“ reden).
In Zuspitzung einer schon
gemachten Aussage behauptet Aristoteles, nicht jede Erscheinung sei wahr; macht
aber gleich den Verfechtern der abgelehnten These (jede Erscheinung sei wahr)
ein gewisses Zugeständnis, nämlich: wohl aber sei jede Wahrnehmung wahr –
jedenfalls hinsichtlich ihres eigenen Gegenstandes: also das Sehen sei wahr in
bezug auf Farbe, das Hören in bezug auf Klang usw. Sogenannte Sinnestäuschungen
kämen nicht durch Täuschung der jeweiligen Sinnesempfindung zustande sondern
durch Täuschung der Vorstellung, die bereits eine Art Urteil abgibt. (Physische
Störungen des Sinnesorgans würde wohl Aristoteles auch nicht ausschließen). Daß
das Sehen in geringer Entfernung anders ausfällt als in großer Entfernung, ist
nun kein Einwand gegen die Wahrheit eines jeden Sehaktes – denn mit der anderen
Entfernung wird ja „anderes“ gesehen. Was hingegen die Meinung des Arztes und
die Meinung des Kranken über dessen Gesundungsaussichten betrifft, so handelt
es sich da eindeutig um Urteile, wie ja das Wort „Meinung“ schon klarlegt.
Etwas anderes würde die Empfindung des Kranken von seinem momentanen Zustand
sein.
Wir können festhalten, daß
Aristoteles hier, obwohl er gegen die „Überschätzung“ der Erscheinungen – in
Sachen Wahrheit – zu argumentieren scheint, ein Plädoyer für die
Wahrheitsfähigkeit der Sinnesempfindungen führt; er verbindet es allerdings mit
einem Plädoyer für seine Logik, nämlich für die Relevanz von „Wesen“ und von
„Notwendigkeit“; es ließe sich vielleicht auch sagen: für Identität in dem
Sinn, daß etwas etwas ist.
Dann setzt Aristoteles zu
einem sehr andersartigen Beweis gegen die Annahme an, es gebe nur
Wahrnehmbares. Denn in diesem Fall gäbe es gar nichts – weil es dann keine
beseelten Wesen gäbe. Onta empsycha: beseelte Seiende, Lebewesen. Lesen
wir nur so weit, dann setzt Aristoteles voraus, daß beseelte Wesen – also
Menschen, Tiere – nicht wahrnehmbar sind. Eine merkwürdige Voraussetzung, die
ihm kaum zuzutrauen ist. Oder meint er, daß die Tatsache, daß ein Wesen
beseelt, also animalisch lebendig ist, nicht direkt wahrnehmbar ist? Oder noch
eingeschränkter: die Tatsache, daß ein Wesen wahrnehmen kann bzw. tatsächlich
wahrnimmt, sei nicht wahrnehmbar? Selbst das ist dem Zoo- und Anthropologen
Aristoteles nicht zuzutrauen. Und die weitergehende Einschränkung: die Seele
selber sei nicht wahrnehmbar, würde vielleicht zu irgendeinem christlichen
Seelen-Begriff passen – aber nicht unbedingt zum aristotelischen, für den die
Seele nicht ein Gespenst irgendwo drinnen ist, sondern das Organisationsprinzip
eines lebenden Körpers. Aristoteles’ irreale Schlußfolgerung geht tatsächlich
dahin, daß es dann keine Wahrnehmung gäbe. Es ist also die Wahrnehmung, die er
für unwahrnehmbar hält – daher muß es Unwahrnehmbares geben. Wenn es nur
sinnlich Wahrnehmbares gäbe, gäbe es gerade nichts sinnlich Wahrnehmbares –
weil keine Sinneswahrnehmung. Aber die Substrate, also die Elemente oder
Materien, die die Wahrnehmung auslösen und veranlassen, die würde es schon
geben. Also das, was dann zum Objekt der Wahrnehmung wird. Wahrgenommen werden
nur Objekte – und nicht etwa die Wahrnehmung selber. Wahrnehmung ist nicht
reflexiv sondern ausschließlich „objektiv“. Es gibt also mindestens ein
unwahrnehmbares, neuzeitlich gesagt „übersinnliches“ Etwas: die Wahrnehmung
selber. Und Aristoteles scheint dieses Unwahrnehmbare auf den Träger der
Wahrnehmung auszuweiten. Als ob Menschen und Tiere unwahrnehmbar wären. Kann
das sein?
Walter Seitter
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Sitzung vom 18. Juni 2014
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