τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 21. Juni 2014

In der Metaphysik lesen (1010a 32 – 1011a 2)

Der kleine Ausflug in die Kosmologie, den Aristoteles da einschiebt, läßt daran erinnern, daß die Platzierung der Erde im Zentrum des Weltalls wohl eine zweideutige Platzierung gewesen ist, sodaß ihre Aufhebung durch die „Kopernikanische Wende“ nicht eindeutig als „Narzißmus-Kränkung“ gesehen werden muß (wie Sigmund Freud nahegelegt hat). Einerseits hat diese Platzierung dem von den Menschen bewohnten Planeten sehr wohl eine ausgezeichnete Position zugewiesen: jedenfalls in einem geometrischen Sinn. Ob der Erde damit die Funktion zugewiesen wurde, das gesamte – kugelförmige - Weltall zu halten, zu stabilisieren oder gar zu konstituieren (wie man mit dem Zirkel einen Kreis vom Mittelpunkt aus konstruiert), sei dahingestellt. Aristoteles erwähnt in unserer Stelle keineswegs so eine fundierende Rolle der Erde. Er betont vielmehr die andere Seite: die Erde, also die Menschenumwelt, ist nur ein winzig kleiner Ort im Weltall und noch dazu der qualitativ schwächste, ja minderwertigste: weil da die Bewegung, Veränderung, vorherrscht. Die Mitte der Gesamtkugel, ist deren „weichster“, unstabilster Teil.
Das wiederum entspricht ganz grob gesprochen ein bißchen unserer heutigen Auffassung von der Erdkugel, die im Inneren flüssig-heiße Schichten birgt. Doch im Moment geht es um die Abwertung der Mitte und diese wurde im geozentrisch-christlichen Weltbild damit auf die Spitze getrieben, daß im Innersten der Erde der theologische Ort „Hölle“ angesetzt worden ist, wo Feuer und Superlativ des Bösen lokal koinzidieren. So beispielsweise in Dantes Göttlicher Komödie. Die Hölle als geometrisches Zentrum der gesamten Welt. Konstitutiver Mittelpunkt?
Davon ist natürlich bei Aristoteles keine Rede, weil er die Erde von jeder theologischen Konnotation frei hält (während er mit der äußersten Himmelssphäre anders verfährt). Hingegen hat die griechische Volksreligion die Erde sehr wohl mit theologisch relevanten Zonen ausgestattet: Orte von Theophanie.
Aristoteles kommt dann gleich wieder auf seine Sophisten (und Naturphilosophen?) zu sprechen und weist ihnen nach: wenn sie – dem Satz vom Widerspruch offensiv widersprechend - behaupten, daß alles zugleich sei und nicht sei, dann müßten sie, ob sie nun wollen oder nicht, eigentlich annehmen, daß sich alles in Ruhe befinde, weil bereits „alles“ – nämlich jedwedes und jedes Gegenteil davon – realisiert sei. Hier treibt Aristoteles ironisch oder kritisch oder polemisch den Begriff „alles“ auf die Spitze (Mathematiker würden da vielleicht von unterschiedlichen „Mächtigkeiten“ reden).
In Zuspitzung einer schon gemachten Aussage behauptet Aristoteles, nicht jede Erscheinung sei wahr; macht aber gleich den Verfechtern der abgelehnten These (jede Erscheinung sei wahr) ein gewisses Zugeständnis, nämlich: wohl aber sei jede Wahrnehmung wahr – jedenfalls hinsichtlich ihres eigenen Gegenstandes: also das Sehen sei wahr in bezug auf Farbe, das Hören in bezug auf Klang usw. Sogenannte Sinnestäuschungen kämen nicht durch Täuschung der jeweiligen Sinnesempfindung zustande sondern durch Täuschung der Vorstellung, die bereits eine Art Urteil abgibt. (Physische Störungen des Sinnesorgans würde wohl Aristoteles auch nicht ausschließen). Daß das Sehen in geringer Entfernung anders ausfällt als in großer Entfernung, ist nun kein Einwand gegen die Wahrheit eines jeden Sehaktes – denn mit der anderen Entfernung wird ja „anderes“ gesehen. Was hingegen die Meinung des Arztes und die Meinung des Kranken über dessen Gesundungsaussichten betrifft, so handelt es sich da eindeutig um Urteile, wie ja das Wort „Meinung“ schon klarlegt. Etwas anderes würde die Empfindung des Kranken von seinem momentanen Zustand sein.
Wir können festhalten, daß Aristoteles hier, obwohl er gegen die „Überschätzung“ der Erscheinungen – in Sachen Wahrheit – zu argumentieren scheint, ein Plädoyer für die Wahrheitsfähigkeit der Sinnesempfindungen führt; er verbindet es allerdings mit einem Plädoyer für seine Logik, nämlich für die Relevanz von „Wesen“ und von „Notwendigkeit“; es ließe sich vielleicht auch sagen: für Identität in dem Sinn, daß etwas etwas ist.

Dann setzt Aristoteles zu einem sehr andersartigen Beweis gegen die Annahme an, es gebe nur Wahrnehmbares. Denn in diesem Fall gäbe es gar nichts – weil es dann keine beseelten Wesen gäbe. Onta empsycha: beseelte Seiende, Lebewesen. Lesen wir nur so weit, dann setzt Aristoteles voraus, daß beseelte Wesen – also Menschen, Tiere – nicht wahrnehmbar sind. Eine merkwürdige Voraussetzung, die ihm kaum zuzutrauen ist. Oder meint er, daß die Tatsache, daß ein Wesen beseelt, also animalisch lebendig ist, nicht direkt wahrnehmbar ist? Oder noch eingeschränkter: die Tatsache, daß ein Wesen wahrnehmen kann bzw. tatsächlich wahrnimmt, sei nicht wahrnehmbar? Selbst das ist dem Zoo- und Anthropologen Aristoteles nicht zuzutrauen. Und die weitergehende Einschränkung: die Seele selber sei nicht wahrnehmbar, würde vielleicht zu irgendeinem christlichen Seelen-Begriff passen – aber nicht unbedingt zum aristotelischen, für den die Seele nicht ein Gespenst irgendwo drinnen ist, sondern das Organisationsprinzip eines lebenden Körpers. Aristoteles’ irreale Schlußfolgerung geht tatsächlich dahin, daß es dann keine Wahrnehmung gäbe. Es ist also die Wahrnehmung, die er für unwahrnehmbar hält – daher muß es Unwahrnehmbares geben. Wenn es nur sinnlich Wahrnehmbares gäbe, gäbe es gerade nichts sinnlich Wahrnehmbares – weil keine Sinneswahrnehmung. Aber die Substrate, also die Elemente oder Materien, die die Wahrnehmung auslösen und veranlassen, die würde es schon geben. Also das, was dann zum Objekt der Wahrnehmung wird. Wahrgenommen werden nur Objekte – und nicht etwa die Wahrnehmung selber. Wahrnehmung ist nicht reflexiv sondern ausschließlich „objektiv“. Es gibt also mindestens ein unwahrnehmbares, neuzeitlich gesagt „übersinnliches“ Etwas: die Wahrnehmung selber. Und Aristoteles scheint dieses Unwahrnehmbare auf den Träger der Wahrnehmung auszuweiten. Als ob Menschen und Tiere unwahrnehmbar wären. Kann das sein?

Walter Seitter

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Sitzung vom 18. Juni 2014

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