Im letzten Protokoll deutete
ich eine Aristoteles-Struktur an, die sich aus seinen drei philosophischen
Herkünften ergibt, welche sich gegenseitig kritisieren und relativieren und
sozusagen halbieren. Die platonische, die naturphilosophische und die
sophistische Herkunft sind in dieser Reihenfolge bekannt: die platonische ist
die bekannteste, die sophistische ist die unbekannteste; vielleicht ist sie
auch die „schwächste“ – jedenfalls „schwächt“ sie entscheidend die beiden
anderen, viel „stärkeren“. Die drei schwächen sich gegenseitig und wenn man sie
sich als Ringe vorstellt, könnte man sie sich eher als Halbringe, Ringfragmente
denken, um Aristoteles als Zusammensetzung aus Halbplatoniker, Halbnaturkundler
und Halbsophisten darstellen zu können.
Zwei gebrochene Ringe
Die drei gebrochenen Ringe
bilden ineinander verkettet eine Ringkette – aber eine leicht lösbare. Insofern
vergleichbar mit einer „borromäischen“ Kette – die aber technisch ganz anders
geartet ist (und nicht nur zirkulär sondern auch linear gefügt sein kann).
Jacques Lacan hat 1973
ausgehend vom Seemannsknoten den sogenannten „Borromäischen Knoten“
konstruiert, der gar kein Knoten ist sondern eine Kette.[1]
Die Form der aus drei Ringen gefügten Kette hat ihm dann dazu gedient, den
Zusammenhang der drei Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen
darzustellen.[2] Man könnte nun eine Analogie
zwischen dieser Konstruktion Lacans und der von mir vorgeschlagenen
Aristoteles-Struktur aus platonischer, naturphilosophischer und sophistischer
Herkunft annehmen, indem man den platonischen Anteil dem Symbolischen, den
naturphilosophischen dem Realen, den sophistischen dem Imaginären zuordnet.
Im Buch IV stellt Aristoteles
den Bezug zu den genannten drei philosophischen Traditionslinien ausschließlich
kritisch her - und zwar schärfer, polemischer und hartnäckiger als in den
ersten Büchern. Erst hier beginnt er die Auseinandersetzung mit den Sophisten –
bekanntlich die Lieblingsfeinde von Sokrates-Platon. Und indem er die Kritik an
den Sophisten eng mit derjenigen an den Naturphilosophen verbindet, teilweise
sogar vermischt, arbeitet er – wenngleich negativ – an der Zusammenfügung der
von ihm relativierten und modifizierten und übernommenen philosophischen
Traditionen.
In 1009a 1 ff. referiert
Aristoteles die sophistische Ansicht, wonach die Wahrheit in den Erscheinungen
liege, diese aber hängen von den Sinnesempfindungen ab, welche zwischen
menschlichen Individuen, zwischen unterschiedlichen Arten von Lebewesen und
sogar bei einem Individuum von Mal zu Mal unterschiedlich ausfallen. Deshalb
seien alle diese Empfindungen wahr – denn die Mehrzahl von gleichen
Empfindungen könne ja wohl nicht als Wahrheitskriterium dienen (wenngleich
demokratische Abstimmungen so funktionieren). Naturphilosophische Theoretiker
würden denselben Ansichten zuneigen und sie sogar radikalisieren, indem sie
Sinnesempfindung und Verstandeserkenntnis gleichsetzen. Hier nennt Aristoteles
Demokrit, er zitiert Empedokles und
Parmenides, der sogar den nous von den körperlich zustandegekommenen
Empfindungen abhängig macht. Er stellt auch Anaxagoras in die Reihe dieser
„Relativisten“ und sogar Homer wird mit einem – allerdings ungewissen - Zitat
die Aussage zugeschrieben, ein Bewußtloser denke nicht etwa „daneben“ sondern
nur „anders“.
Aristoteles hält diese Lage
für äußerst unangenehm und schwierig, er ist geradezu entsetzt. Wenn sogar die
Genannten, die ja die Wahrheit am meisten geschaut – weil gesucht und geliebt –
haben, sich so über sie äußern, wie sollen dann die jungen Zöglinge der Philosophie
nicht allen Mut sinken lassen? Hier spricht nun vor allem der Platon-Schüler
und sozusagen platonische Philosophie-Lehrer und man sieht, daß die
aristotelische Zusammenfügung der verschiedenen Philosophie-Traditionen kein
bedächtiges Zusammenbauen gewesen ist sondern über das Zerschlagen einmal dieses
Ringes mithilfe jenes und dann jenes Ringes durch einen wiederum anderen
vonstatten gegangen ist. Jede dieser Traditionen war ihm ein Konstrukt von
Aporien, das zerschlagen oder vielmehr durchgearbeitet und mithilfe anderer
Stücke umgebaut werden mußte – um vielleicht schließlich einen größeren Bau
zusammenzubringen.
Walter Seitter
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Sitzung vom 4. Juni 2014
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