τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 6. Juni 2014

In der Metaphysik lesen (1009b 1–1009b 38)

Im letzten Protokoll deutete ich eine Aristoteles-Struktur an, die sich aus seinen drei philosophischen Herkünften ergibt, welche sich gegenseitig kritisieren und relativieren und sozusagen halbieren. Die platonische, die naturphilosophische und die sophistische Herkunft sind in dieser Reihenfolge bekannt: die platonische ist die bekannteste, die sophistische ist die unbekannteste; vielleicht ist sie auch die „schwächste“ – jedenfalls „schwächt“ sie entscheidend die beiden anderen, viel „stärkeren“. Die drei schwächen sich gegenseitig und wenn man sie sich als Ringe vorstellt, könnte man sie sich eher als Halbringe, Ringfragmente denken, um Aristoteles als Zusammensetzung aus Halbplatoniker, Halbnaturkundler und Halbsophisten darstellen zu können.

Zwei gebrochene Ringe

Die drei gebrochenen Ringe bilden ineinander verkettet eine Ringkette – aber eine leicht lösbare. Insofern vergleichbar mit einer „borromäischen“ Kette – die aber technisch ganz anders geartet ist (und nicht nur zirkulär sondern auch linear gefügt sein kann).
Jacques Lacan hat 1973 ausgehend vom Seemannsknoten den sogenannten „Borromäischen Knoten“ konstruiert, der gar kein Knoten ist sondern eine Kette.[1] Die Form der aus drei Ringen gefügten Kette hat ihm dann dazu gedient, den Zusammenhang der drei Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen darzustellen.[2] Man könnte nun eine Analogie zwischen dieser Konstruktion Lacans und der von mir vorgeschlagenen Aristoteles-Struktur aus platonischer, naturphilosophischer und sophistischer Herkunft annehmen, indem man den platonischen Anteil dem Symbolischen, den naturphilosophischen dem Realen, den sophistischen dem Imaginären zuordnet.

Im Buch IV stellt Aristoteles den Bezug zu den genannten drei philosophischen Traditionslinien ausschließlich kritisch her - und zwar schärfer, polemischer und hartnäckiger als in den ersten Büchern. Erst hier beginnt er die Auseinandersetzung mit den Sophisten – bekanntlich die Lieblingsfeinde von Sokrates-Platon. Und indem er die Kritik an den Sophisten eng mit derjenigen an den Naturphilosophen verbindet, teilweise sogar vermischt, arbeitet er – wenngleich negativ – an der Zusammenfügung der von ihm relativierten und modifizierten und übernommenen philosophischen Traditionen.
In 1009a 1 ff. referiert Aristoteles die sophistische Ansicht, wonach die Wahrheit in den Erscheinungen liege, diese aber hängen von den Sinnesempfindungen ab, welche zwischen menschlichen Individuen, zwischen unterschiedlichen Arten von Lebewesen und sogar bei einem Individuum von Mal zu Mal unterschiedlich ausfallen. Deshalb seien alle diese Empfindungen wahr – denn die Mehrzahl von gleichen Empfindungen könne ja wohl nicht als Wahrheitskriterium dienen (wenngleich demokratische Abstimmungen so funktionieren). Naturphilosophische Theoretiker würden denselben Ansichten zuneigen und sie sogar radikalisieren, indem sie Sinnesempfindung und Verstandeserkenntnis gleichsetzen. Hier nennt Aristoteles Demokrit,  er zitiert Empedokles und Parmenides, der sogar den nous von den körperlich zustandegekommenen Empfindungen abhängig macht. Er stellt auch Anaxagoras in die Reihe dieser „Relativisten“ und sogar Homer wird mit einem – allerdings ungewissen - Zitat die Aussage zugeschrieben, ein Bewußtloser denke nicht etwa „daneben“ sondern nur „anders“.
Aristoteles hält diese Lage für äußerst unangenehm und schwierig, er ist geradezu entsetzt. Wenn sogar die Genannten, die ja die Wahrheit am meisten geschaut – weil gesucht und geliebt – haben, sich so über sie äußern, wie sollen dann die jungen Zöglinge der Philosophie nicht allen Mut sinken lassen? Hier spricht nun vor allem der Platon-Schüler und sozusagen platonische Philosophie-Lehrer und man sieht, daß die aristotelische Zusammenfügung der verschiedenen Philosophie-Traditionen kein bedächtiges Zusammenbauen gewesen ist sondern über das Zerschlagen einmal dieses Ringes mithilfe jenes und dann jenes Ringes durch einen wiederum anderen vonstatten gegangen ist. Jede dieser Traditionen war ihm ein Konstrukt von Aporien, das zerschlagen oder vielmehr durchgearbeitet und mithilfe anderer Stücke umgebaut werden mußte – um vielleicht schließlich einen größeren Bau zusammenzubringen.


Walter Seitter


--
Sitzung vom 4. Juni 2014


[1] Siehe Jacques Lacan: Seminar XX: Encore (Weinheim 1986): 131ff.
[2][2] Zu diesen drei Registern oder Aggregatzuständen siehe Paul-Laurent Assoun: Lacan (Paris 2003): 31-62.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen