In der letzten
Stunde sind wir zunächst noch einmal auf das Thema des Vortrags von Erisman
eingegangen. Dabei handelt es sich um eine Aristoteles-Rezeption im
Byzantinischen Bilderstreit am Anfang des 9. Jahrhunderts. Um die Verwendung
eines aristotelischen Theoriestücks in der christlichen Theologie: so etwas hat
es bereits im Zuge der Dogmatisierungen seit dem 4. Jahrhundert und dann etwa
in der lateinischen Scholastik seit dem 13. Jahrhundert gegeben. Das Besondere
in dieser Angelegenheit liegt nun darin, dass Aristoteles in eine der
berühmtesten bildpolitischen Episoden der Weltgeschichte eingeführt worden ist.
In der ging es nicht um die Frage, ob Bilder so oder so beschaffen sein sollen,
sondern ob bestimmte Bildtypen, und zwar wichtige oder prominente Bilder,
überhaupt hergestellt, angebracht, verehrt werden dürfen – oder ob sie gänzlich
zerstört, abgeschafft und nie mehr hergestellt werden sollen.
Und die
(post)aristotelische Argumentation, die sich gar nicht auf Bilder
bezog, sondern auf einen prominenten Bildgegenstand (von dem allerdings
Aristoteles nie etwas gewusst hatte), wurde in die Richtung eingebracht, dass
der Streit für die Bilderverehrer (Ikonodoulen) entschieden worden ist.
Jede
Aristoteles-Rezeption ist eine Kollegin jeder anderen Aristoteles-Rezeption –
auch hier gilt die Logik von Spezies und Individuum. Daher ist auch unsere
hiesige Aristoteles-Rezeption eine Kollegin jener, die vor 1200 Jahren
stattgefunden hat. Die unsrige dauert nun schon ungefähr acht Jahre, daher
nenne ich sie jetzt „Immerwährendes Aristoteles-Seminar“.
Der Abschnitt
10 des Buches V schließt thematisch direkt an den vorigen an.
„Entgegengesetzte“
werden genannt: „Widerspruch“ ..... Ich setze das Wort in Anführungszeichen,
weil es sehr missverständlich ist. Im Buch IV ist über mehr als zehn Seiten
hinweg der sogenannte „Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch“ vorgeführt und
geradezu erbittert verteidigt worden. Dort gab es aber gar kein Wort mit der
Bedeutung „Widerspruch“. Sondern in vielen Anläufen legt Aristoteles dar, dass,
wer von etwas etwas aussagt und gleichzeitig das Gegenteil, dass der nichts
sagt, weil er sich selber widerspricht. Und so ein „Selbstwiderspruch“ soll
ausgeschlossen sein – weil es mit ihm keine Rede gibt. Rede aber spielt sich
häufig in Form von Rede und Gegenrede ab. Die Gegenrede wird hier als ein Fall
von „Entgegengesetztem“ bezeichnet.
Und die
Gegenrede soll nicht ausgeschlossen oder etwa verboten werden. Ist das
selbstverständlich? Es gibt genug Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Autoritäten oder
dergleichen, die Gegenrede für ausgeschlossen, verboten erklären. So eine
Autorität ist natürlich Aristoteles nicht. Als Philosoph muß er Diskussion,
also Rede und Gegenrede, für geboten erklären – denn das ist Philosophie.
Lyotard nannte das „Widerstreit“.
Im Wort
„Widerspruch“ geraten Gegenrede und Selbstwiderspruch höchst unklar
zusammen.
Andere
„Entgegengesetzte“ sind solche, die in den folgenden Abschnitten behandelt
werden. Außerdem: die Extreme, aus denen die Entstehungen hervorgehen und in
die die Vergehungen übergehen. Was sind diese Extreme? Anfang und Ende? Nichts
und nichts?
Postskriptum:
Am 18., 19.,
20. Juni fand in Wien eine Foucault-Tagung statt, der Anlaß hieß „40 Jahre Überwachen
und Strafen“.
Ich referierte
über „Menschenformen. Unterschiedliche Menschenunterscheidungen (Foucault,
Weininger).“
Der
österreichische Philosoph Otto Weininger (1880-1903) hat in seinem Buch Geschlecht
und Charakter einen Antifeminismus formuliert, den er selber indirekt als
„ontologischen“ qualifiziert hat, und zwar zurecht. Denn er läuft darauf
hinaus, dass er eine wichtige akzidenzielle Dimension des Menschen, die
Sexualität mit ihren zwei exklusiven oder auch inklusiven Polen „männlich“ und
„weiblich“, dermaßen mit dem Wesen des Menschen identifiziert, dass dieses
seine Eigenständigkeit, das heißt seine durchgängige Präsenz verliert. Es wird
von der sexuellen Polarisierung ergriffen und zerteilt. Mit dem Ergebnis, dass
Wesensbestandteile des Menschen wie Seele oder Geist bei einer
disjunktiv-exklusiven Verteilung der Sexualcharaktere den weiblichen
Exemplaren, jedenfalls den meisten, eventuell auch gewissen männlichen
Exemplaren, wenn bei ihnen der weibliche Sexualcharakter überwiegt,
abgesprochen werden. Ergebnis: Das Wesen des Menschen wird disjungiert und es
gibt Menschen ohne Seele.
Wir könnten
überlegen, ob die sexuellen Charaktere der Menschen unter die aristotelischen
Begriffe „entgegengesetzt“ und „Gegenteil“, die im Abschnitt 10 behandelt
werden, subsumiert werden können.
Walter Seitter
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Sitzung vom 17. Juni 2015
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