τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 27. Juni 2015

In der Metaphysik lesen (1018a 23 – 1018b 8)

Die Begriffe „entgegengesetzt“ und „Gegenteil“ mögen zwar aus der Logik stammen, aber hier beziehen sie sich auf Phänomene der Außenwelt. Innerhalb der Logik spricht man eher von „Gegensatz“, denn die Logik hat es mit Sätzen zu tun. Die Rhetorik mit Reden – daher „Gegenrede“.

Die Gegenteile  sind Teile der Welt, es können auch psychische, ethische, politische, eventuell göttliche („dämonische“) Sachen sein. Das einzige und knappe Beispiel, nämlich die Entgegensetzung  grau-weiß (die wir zur Polarität schwarz-weiß ergänzt haben), bezieht sich eindeutig auf die physische Außenwelt.  Und zwar handelt es sich um Eigenschaften.

Im weiteren Verlauf von Abschnitt 10 erläutert Aristoteles seine Begriffe mit „Art“, „Gattung“, „Unterscheidung“, die wiederum der Logik angehören, aber „entgegengesetzt“ und „Gegenteil“ gehen weiterhin über die Logik hinaus – egal, ob damit Dinge oder Eigenschaften gemeint sind (aus dem Text geht das überhaupt nicht hervor, weil Aristoteles nur karge Artikel und Pronomina einsetzt:  die da und solche und jene ...)

Unser aristotelisches Buch operiert auf weite Strecken als "objektorientierte Logik". Es setzt die Logik voraus und schaut hinaus, es setzt der Logik Augen ein.

In der von Ursula Wolf herausgegebenen Rowohlt-Ausgabe der Metaphysik wird nun genos nicht mit „Gattung“ übersetzt sondern mit „Geschlecht“.

Das ist als Übersetzung abstrus – und eben deswegen lehrreich. Denn das griechische Wort genos hat ursprünglich eine biologische Bedeutung und heißt „Abstammung“, „Verwandtschaft“, „Geschlecht“. Die Wurzel „gen“ verweist auf Zeugung. Auch das deutsche Wort „Gattung“, das inzwischen als logischer Begriff etabliert ist, stammt aus einem biologischen Kontext. Durch Begattung und Zeugung werden Individuen produziert, die verwandtschaftlich zusammengehören, und diese Zusammengehörigkeit heißt „Gattung“ oder „Art“.

In der Logik bezeichnet dann Gattung eine weitere Zusammengehörigkeit, Art eine engere.

Das lateinische genus hat dieselbe Bedeutung wie das griechische genos. In der Grammatik bezeichnet es die Wortgeschlechter männlich, weiblich, sächlich.

In der Verwandtschaftslehre gibt es die Geschlechter des Miteinander (Mann, Frau) und die Geschlechter des Nacheinander (Eltern, Kinder, Vorfahren, Nachkommen).

Die lateinische Sprache hat neben dem sächlichen genus einen männlichen, gewissermaßen personalen, Parallelbegriff hervorgebracht: den genius. Die Zeugungskraft, die Seele des Mannes, die er mit der Zeugung von Kindern ins Werk setzt, welche dann ihrerseits auch so einen genius haben (die Frauen haben jeweils eine Juno). Aber nicht nur Menschen, auch Hügel, Täler, Gebäude, Institutionen haben dieser animistischen Vorstellung zufolge jeweils einen Genius – einen Schutzgeist oder ein „Geistchen“.

Der österreichische Philosoph Edgar Zilsel (1891-1944) ist diesen Dingen nachgegangen, als er die Vorgeschichte des Geniebegriffs erforscht hat, auch die Wurzeln des modernen Geniekults, der bei Otto Weininger große Wirkung getan hat.[1]

Inzwischen rühmt sich Österreich, ein genfreies Land zu sein.


Walter Seitter


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Sitzung vom 24. Juni 2015 



[1] Siehe Edgar Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus (Tübingen 1926): 9ff.; ders.:  Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeisideal, mit einer historischen Begründung (1918) (Frankfurt 1990)

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