τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 10. Juli 2022

In der Metaphysik lesen (1081a 17 – 1081b 27)

Protokoll vom 6.Juli 2022

 

Da die aristotelische Metaphysik nicht fertiggeschrieben worden ist – ein historisch-physikalischer Tatbestand (der in die Zuständigkeit der Philologie fällt), ist es „objektiv“ unmöglich, sie fertigzulesen – eine negativ-technische Tatsache (technisch im Sinne von poietisch, da das Lesen sich (wie auch das Schreiben) als eine derartige Begleittätigkeit zum Theoretischen eingebürgert hat).[1]

Um diese wunschwidrige und erfolggefährdende Situation zu verbessern, habe ich vor einiger Zeit vorgeschlagen, das Buch von Hermann von Kärnten in die Metaphysik-Lektüre einzuschieben und diese so hinauszuschieben bzw. zu verlängern, daß sie noch einige Zeit möglich sein wird. Der bislang ziemlich unbekannte Autor gerät damit in die Rolle eines katechontischen Nothelfers, welche keine geringe Rolle ist. Allerdings könnte es sein, daß er sie auch nur ein paar Monate ausfüllen kann. Sodann soll eine Lektüre einiger Passagen der aristotelischen Physik weiterhelfen, die obendrein auch thematisch sehr hilfreich sein dürfte, da sie einen großen „Rücksprung“ darstellen würde und unsere Lektüre auch offiziell auf die Schiene der Physik stellen würde.

 

Die Vorschläge, sowohl die Textstruktur der Metaphysik wie auch unsere Lesetätigkeit (man kann auch sagen -arbeit, sofern sie ernsthaft betrieben wird) zu graphisieren das heißt graphisch sichtbar zu machen, werden besprochen.

Der Graphikvorschlag, der die Textstruktur als Überlagerung von Grundton und Oberton darstellen will, setzt das Schema der gleichzeitig erklingenden Töne ein, das der Harmonie entspricht (welche ihrerseits mehr konsonant oder mehr dissonant ausfällt, wie Maximilian Perstl erklärt). Der andere, der mit Klammeröffnungen und -schließungen die Lektüre als Ineinander von Vorwärtsbewegungen und Rücksprüngen darstellen möchte, erinnert, wie Sophia Panteliadou bemerkt, an Graphisierungsversuche von Jacques Lacan, der diesbezüglich als Vorreiter gelten darf.[2]

Der Hin- und Hersprung zwischen Buch I und Buch XII macht den Spannungsbogen deutlich, der zustandekommt, wenn menschliches Streben sich von der unbewegt bewegenden Wahrheit bewegen läßt und selber sich in Bewegung setzt und damit sich selber in bestimmter Weise qualifiziert.

Aristoteles hält auch an der „Spitze“ seiner Problematik an dem Bewegungsvokabular (in unterschiedlichen Versionen) fest. Auf dem „Höhepunkt“ seiner sogenannten Metaphysik hält er in gewisser Weise an dem Paradigma der Physik fest, welche für ihn die erste theoretische Wissenschaft ist und bleibt und Zweite Philosophie wird sie erst, da sie als responsive Wissenschaftsbewegung und -leistung in den genannten Spannungsbogen hinein gehört, dessen anderer Pol laut Aristoteles der erste, der primäre, der vorrangige, wohl auch der stärkere ist aber beileibe kein allmächtiger ist denn jedes Menschenwesen kann sich für sowas desinteressieren oder es widersinnig verzerren.

Zur Körperlichkeit der Physik müssen dann allerdings andere Realitätssorten dazukommen, die aristotelisch als psychische und noetische zu benennen sind. Was heißt dazukommen? Die Physik als Wissenschaft also menschliche Machenschaft war nie rein körperlich (auch wenn sie spezifische Zusatzkörperlichkeiten wie Sprache, Schrift, Zeichnung) ausgebildet hat: Wissenschaft ist von vornherein animalisch, psychisch, noetisch, hoffentlich leidenschaftlich unterwegs, sozial generiert – andernfalls kommt sie gar nicht so weit, daß sie zustandekommt. Solches weiß man nur, wenn man zumindest jemals derartig oder ähnlich tätig gewesen ist.[3]

 

In den Überlegungen zu den Zahlen weiterlesend fragen wir uns, welche Art von Zweiteilung Aristoteles da im Sinn hat: einerseits die gewöhnlichen Zahlen, die auch als die mathematischen bezeichnet werden; andererseits irgendwie höherrangige Zahlen, die sich sich den mathematischen Operationen verweigern.

 

Karl Bruckschwaiger erwähnt das deutsche Wort „Paar“, das so etwas wie „2“ bedeutet – aber mit zusätzlichen Nuancen: entweder ein festes Paket von zwei gleichartigen Dingen, etwa Würsten oder Schuhen. Oder aber eine bewußt hergestellte gefühlsmäßige oder vertragliche Verbindung zwischen zwei Menschen, die mit dem Wort „Paar“ allein bezeichnet wird. Das wäre dann eine „zwei an sich“. Tatsächlich jedoch gerade nicht nur die Zahl. Fest geschnürte Pakete aus einem oder aus zwei oder aus drei und so weiter Elementen gibt es in der Musik, im Sport und anderswo – dabei sind die Zahlen nur Zusatzbestimmungen zu bestimmten Dingen oder Eigenschaften. Ein berühmtes Beispiel dafür bildet die Dreifaltigkeit Gottes in der christlichen Theologie, welche erst bei Augustinus und dann bei Hegel philosophisch eingeholt worden ist (wenn überhaupt).

Was die Zahlen gegenüber anderen Bestimmungen hervorhebt, ist gerade ihre Behandelbarkeit in der Mathematik, die ein eigenes Reich von Gesetzen bildet, wozu auch die Definition von unterschiedlichen Zahlensorten gehört, die jedoch mit den von Aristoteles genannten pythagoräischen oder platonischen wenig zu tun haben. Es scheint also, daß sich Aristoteles da mit theoretischen Meinungen herumschlägt, die kaum zu halten sind, wie er ja auch selber sagt. Hinter denen jedoch theoretische Möglichkeiten stecken, welche zu seiner Zeit noch kaum eröffnet waren. Immerhin hat Aristoteles, indem er Astronomie und Musik der Mathematik (anstatt der Physik) zugerechnet hat, das mathematische Quadrivium denkbar gemacht und einer Ausweitung der Mathematik über ihre Grenzen hinaus vorgearbeitet.

Was den Gang der modernen Physik entscheidend geprägt haben dürfte – wie auch den anderer moderner Wissenschaften.

 

Walter Seitter

 

 

 

 




[1] Neben dem poietischen Supplement bedarf das Theoretische auch einer praktischen Weichenstellung - siehe dazu das Protokoll vom 22. Juni 2022. Zum physikalischen Aspekt ist anzumerken, daß er mit der Materialität des Textes automatisch gegeben ist und daß er mich wie jeden Leser der Metaphysik dazu zwingt, auch eine Physik der Metaphysik in Angriff zu nehmen – was allerdings nicht jedem bekannt ist.

[2] Siehe Jacques Lacan: Das Seminar über  E. A. Poes „Entwendeten Brief“, in ders.: Schriften I (Frankfurt 1975); Walter Seitter: Jacques Lacan: als Zeichner, in ders.: Jacques Lacan und (Berlin 1984)

[3] Siehe Walter Seitter: Die Leidenschaft des Physikers, in: ders.: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997). Und ich danke Melisa Mendiny für ihre Anregungen.

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