τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 20. Januar 2023

Unlesbarkeit – Knotenpunkte - Parallellektüren

 Protokoll vom 18. Jänner 2022

 

Die Lesung des Protokolls vom 21. Dezember 2022 beschäftigt uns intensiv, da eine Reihe von Verständnisschwierigkeiten und Vergeßlichkeiten auftauchte, die ein Weiterkommen verzögert.

Im Grunde genommen bestätigen sie die Ansicht, die Metaphysik sei ein sehr berühmtes und sehr wenig gelesenes Buch.

Unlesbar, weil schlecht überliefert bzw. vom Autor offensichtlich nicht fertiggestellt, nicht schlußredigiert. 

 

Die Einteilung in „Bücher“ entspricht zwar der antikischen lockeren Fügung, aber ihre Anordnung, das Fragmentarische von Buch II, das Fehlen jeder Gesamtübersicht, die mangelnde Charakterisierung der Bücher III und V (Listen) – all das zeigt an, daß der Text nicht die Fassung bekommen hat, die man von anderen aristotelischen Büchern kennt. 

Meine Frage, ob man sagen kann, „jede Sache ist auch eine Ursache“, enthält zwar eine sehr ungewöhnliche Formulierung, vielleicht eine ganz neuartige, aber sie ist durch und durch verständlich, egal, ob man sie auf Aristoteles einschränkt oder auf den common sense ausweitet. Sie wirft auf die beiden sehr bekannten Wörter einen neuen Blick, man schaut sie neu an. Man lernt dabei Deutsch; mit dem Philosophieren lernt man auch Deutsch.

Wenn man nicht in der Lage ist, solche Fragen an die Aristoteles-Lektüre anzuschließen, kann man die Lektüre auch bleiben lassen – denn Begriffe wie „Sache“ und „Ursache“ gehören nun einmal - entweder direkt oder indirekt - zum aristotelischen Denken.

Die Frage läßt sich positiv beantworten, wenn man die akzidenziellen Kategorien der Relation oder des Machens auf die Kategorie des Wesens bezieht. 

 

Ich habe diese Frage vor langer Zeit schon einmal mit Karl Bruckschwaiger angeschnitten, indem ich ihn fragte, ob er sich selber als eine Ursache betrachte, was er dann doch nicht von sich wies. Dabei handelt es sich um einen sachlichen Lernvorgang, weil das Wort „Ursache“, üblicherweise auf die sog. objektive Welt angewandt, nun so eingesetzt wird, daß man sich selber nicht vergißt. Die Selbstvergessenheit, die manchmal moralisch empfohlen wird – ein verheerender Mißbrauch der Moral –, hat häufig auch zur Folge, daß man den Begriff „Wesen“ überall zur Anwendung bringt, nur nicht dort, wo er zunächst am Platz ist. Die Folge ist, daß man dann vielleicht ein Wissen von Psychoanalyse braucht, um – eventuell - auch auf sich selber aufmerksam zu werden.

 

 

Übrigens hat Sophia Panteliadou eine ähnliche Angelegenheit in der griechischen Sprache bemerkt: beim Wort aition, wo es sich vielleicht mehr um einen Zufall handelt. 

 

Knotenpunkte im Text sind Stellen, die längere Linien, Frage- oder Such- oder Beziehungslinien einschreiben, einzeichnen, gravieren, graphieren, die zu anderen Stellen hinführen und einen größeren Zusammenhang signifizieren.

 

Schon der allererste Satz der Metaphysik vom Streben aller Menschen nach Wissen ist so ein Knotenpunkt. Aber wohin führt er, zu welchem Wissen? Schon am Ende von Kap. 1 wird dieses Wissen als göttliches benannt.

Aber der erste Satz führt noch woanders hin, nämlich zum Leser, der sich fragen soll, ob er so einer ist, der nach Wissen strebt. Bejaht er die Frage, so wird sein Lesen ein Streben und Suchen. Es wird existenziell. Wenn nicht, bleibt das Lesen sinnlos und unmöglich.

Allerdings wird der rasche Abschluß dieser Linie vom Autor nicht ganz ernstgenommen. Da fehlt ihm der Such-Charakter, den er dieser Wissenschaft zugesprochen hat.

 

Die Suchlinie muß länger sein, daher werden die Vorläufer der Suche genannt, charakterisiert und kritisiert. Die Suche wird historisiert und „dialektisiert“. Die Suche ist auch in Richtung Zukunft zu verlängern - bis zu uns her.

 

Es soll aber auch eine andere Dimension eingezogen werden, eine sachliche Verbreiterung - sowohl mit bestimmten Realitätsbereichen wie auch mit den Seinsmodalitäten, die von der Logik herrühren.

So wird das Buch ziemlich umfangreich und wenig übersichtlich. Kaum lesbar. Ein Labyrinth.

 

Ein weiterer Knotenpunkt ist die Stelle in Buch XI 1064a 29 – 1064b 1, wo vier Wissenschaften zusammengerückt werden. Wie verhalten sich die zueinander?

 

Die aristotelische Metaphysik ist kein genialer Wurf, sondern eine mühselige Zusammenstückelung aus verschiedenen Stücken. Dennoch ein Gedankengang, ein schrittweise vorankommender, ein nicht abgeschlossener, ein nicht perfekt formulierter Text.

In dem dennoch eine Aussage (logos) gesehen werden kann. Keine erzählende (wie etwa in Ilias oder Odyssee) sondern eine theoretische (wie etwa eine Definition) – aber eine viel umfangreichere, die zahlreiche Bestandteile der Welt benennt, aufzählt, charakterisiert und unterscheidet, ihr Zusammenwirken erklärt, auch die bisher vorliegenden Erkenntnisversuche anführt und bewertet. Zu den Realitätselementen gehören auch solche, die nur als Denkgehalte oder -formen gelten, aber dennoch auch real Existierendes bestimmen.

 

Diese Gesamtschau versucht allerdings nicht, sämtliche Bestandteile der Realität zu erfassen – die in anderen Büchern bereits abgehandelt sind, sondern sie läßt sich von der Frage leiten, ob die Gesamtheit der Realität außer den vielen mehr oder weniger bekannten Ursachen noch andere Ursachen enthält, die den Menschen weniger bekannt sind oder über die Mythen, Geschichten von Wunderbarem, im Umlauf sind.

 

 

Da im Buch XII auch das Gute und das Schöne als Ursachen genannt werden, sollten auch die poietischen und die praktischen Wissenschaften in die Überlegungen einbezogen werden. Das Praktische habe ich oben das Existenzielle genannt. Und das Poietische ist wichtig, weil die Suche, auch unsere lesende Suche sprachlich dargestellt werden soll und zwar möglichst gut.

Die Rede von der „gesuchten Wissenschaft“ (983a 21) ist ein wichtiger Knotenpunkt, weil sie den Text nach vorne treibt – und zwar nachdem mit dem göttlichen Wissen die Lösung bereits gefunden zu sein schien.

 

Die Metaphysik kombiniert hauptsächlich eine sehr umfangreiche, aber wenig reflektierte Ausbreitung der Ontologie mit einem relativ zügig vorgetragenen Aufweis einer Ursache, die die sonstigen Ursachen ergänzt und die ziemlich genau beschrieben wird. Ihre begriffliche Beschreibung ist eindrucksvoll komponiert, ich nenne sie „komposit“. Aber einen nachvollziehbaren Sinn sehe ich am ehesten dann, wenn ich der Deutung folge, die Eric Voegelin 1966 in seiner platonisch benannten Textzusammenstellung vorgelegt hat.

 

Mit Streben und Suchen, Bewegt-Werden, kognitivem und volitivem Tätig-Werden, in Form von philosophierender und sorgender Aktivität, verlagert er das Verständnis der sogenannten Metaphysik auf den menschlichen Pol, dem allerdings ein andersartiger Pol gegenübersteht – den er als transzendenten Grund bezeichnet. Mit „Spannung zum Grund“ resümiert er sein Verständnis - für das er den Sachtitel „Metaphysik“ ablehnt (wie ich).[1]

 

 

Die Heranziehung des Textes von Hermann von Kärnten De essentiis bewährt sich in mehreren hier erwähnten Hinsichten: etwa insofern, als damit der herkömmliche Philosophie-Kult gebrochen wird. 

 

Andere parallel gelesene Texte:

 

Francis Ponge: Die Sonne. Eine physikalische „Metaphysik“.

Michel Serres: Lukrez. Wissenschaftshistorische Lektüre einer anderen antiken Physik. (Der Berliner Philosoph Klaus Heinrich hat ebenfalls Lukrez-Vorlesungen gehalten: der Göttin Venus sei es zu verdanken, daß die Atome sich zu stabilen, verlässlichen Verbindungen zusammenschließen. Foedera naturae. Damit setzt Lukrez eine namhafte Göttin an die Stelle des aristotelischen UB.)

 

Aristoteles: Physik. Unmittelbarer literarischer Vorgänger der Metaphysik.

 

Das Entscheidende für die Metaphysik-Lektüre besteht darin, daß man Linien findet, die durchs Werk durchgehen. Mögen sie auch gebrochen sein und vielleicht kein geschlossenes Ganzes zeichnen.

 

Walter Seitter




[1] Siehe  Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik (München 1966)

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