τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 12. März 2023

In der Metaphysik lesen * Nuancierungen

Protokoll vom 8. März 2023

 

Anhand des Protokolls vom 22. Februar rekapitulieren wir einige hiesige Gesprächssituationen, die sich durch Verständnisschwierigkeiten ausgezeichnet haben.

 

Ich sage „ausgezeichnet“, denn Verständnisschwierigkeiten sind Glücksfälle für das Verstehen, sofern sie bemerkt und besprochen und nicht vergessen werden. Nur indem wir solche Gespräche durchführen, etwa über Realitätssorten und Seinsmodalitäten, können wir die Unübersichtlichkeit der Metaphysik dennoch s e h e n  und die begriffliche Unterscheidung zwischen Theologie und Ontologie mit Anschauung füllen. 

 

Die Theologie war bereits in Buch I in zwei kurzen Kapiteln absolviert worden – womit das offizielle Programm der Schrift eigentlich auch schon abgeschlossen schien. Doch Aristoteles wollte sich mit so einem schnellen „Gottesbeweis“ nicht zufrieden geben. 

 

Da setzt die für ihn typische Langwierigkeit ein.

Er fügt zusätzliche Fragen und Überlegungen und Begriffe hinzu, die sich auf seine eigene Suchtätigkeit wie auch auf historische Vorgänger bezogen, womit vielerlei Materialien und Nuancierungen ins Spiel kamen. Im Kapitel 9 von Buch I dann die speziell aristotelische Behauptung, „die Elemente der Seienden könne man nur finden, wenn man die verschiedenen Bedeutungen der Seienden auseinanderhält“ und ein paar davon werden gleich genannt: Tun, Leiden, Wesen. (992b 19f.). Da wird also eine Dimension der Ontologie angedeutet und es gibt noch mehr.

 

In mehreren Anläufen, in vielen „Büchern“, wird dann die Ontologie entworfen, durchgeführt, zusammengebastelt. Durchgeführt oder zusammengebastelt? Ist der erste Ontologe ein Ingenieur oder ein Bastler? 

 

Bis er sich schließlich in Buch XII dazu aufrafft, seine Theologie noch einmal ausführlicher und doch einigermaßen konzis zu formulieren. Wir haben sie gelesen und gesehen, daß er dabei bestimmte Begriffe wie Lust, Permanenz, Denken oder Reflexivität, Bewegungsleistung, Aktivität und Lebendigkeit mit bestimmten Nuancierungen einsetzt. Er begnügt sich nicht damit, die Sache mit dem altehrwürdigen Namen „Gott“ zu benennen. Es kommt ihm vor allem darauf an, sie begrifflich, man könnte auch sagen, sachlich zu präzisieren. Aber den Zusammenhang mit der traditionellen Götterverehrung erwähnt er auch.  

 

Auch bei diesem relativ kurzen Theologie-Stück kann man sich fragen: Ingenieurswerk oder Bastelei? Aussehen tut es nach einer solchen.

 

Kaum ist es irgendwie abgeschlossen, und zwar mit einer gewissermaßen politischen Dezision, wird die ontologische Problemstellung wieder aufgegriffen. Eine Art Unordnung, die wohl mit der Unvollendung der Schrift zusammenhängt.

 

Im Buch XIII dann die Stelle mit den beiden Sehen: der Gesichtssinn sieht die Farbe, der Grammatiker sieht den Buchstaben A. Die Metaphysik, die sogenannte Metaphysik, macht einen kleinen Ausflug in die Wahrnehmungslehre, die allerdings erst dann zu einer Wahrnehmungslehre (Ästhetik) wird, wenn die Leser sie zu einer solchen machen, indem sie nach dem präzisen Zusammenhang zwischen den beiden Sehen fragen. Dazu müssen die Leser es wagen, das „Sehen“ in den Plural zu setzen, was wiederum ein kleiner Gewaltakt innerhalb der pluralfeindlichen deutschen Sprache ist. Und der präzise Zusammenhang kann nur dann formuliert werden, wenn man auch die Farbe(n) pluralisch erfährt. 

 

Diese epistemologische Überlegung wird von Aristoteles weitergeführt, indem er zum wohl berühmtesten Begriff seiner Ontologie bemerkt, nämlich zum Wesen, er werde von einem zweifachen Erkenntnisvermögen gestützt: von der Wahrnehmung und vom Sprechen, er sei sowohl Erscheinung wie auch Begriff. Das alles hat mit dem, was man landläufig „Metaphysik“ nennt, herzlich wenig zu tun. Es ist Aristoteles pur.  

 

Soweit ein sehendes Aristoteles-Lesen, das wir hier versuchen.

 

Darüber hinaus gibt es noch eine zusätzliche Ebene, die noch philosophischer ist:

 

Aristoteles amicus, magis amica veritas

 

Walter Seitter

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