21. Juni 2023
Beim Lesen im Buch XIV haben wir bemerkt, daß Aristoteles hier seine Aufmerksamkeit wiederum hauptsächlich auf die Aussage-Mannigfaltigkeit des Seienden legt, welche das axiomatische (oder theorematische ?) Prinzip seiner im Buch IV formell begründeten Ontologie ist. Doch die deutschen Übersetzungen bemühen sich nur wenig, seine Formulierungen, die diese Aussagerichtung performativ zum Ausdruck bringen, der deutschen Sprache aufzuzwingen.
Etwas Ähnliches habe ich vor Jahren beim Vergleich zwischen französischen philosophischen Büchern und den deutschen Übersetzungen wahrgenommen. Sophia Panteliadou erwähnt als Beispiel dafür das Buch Politiques de l’amitié von Jacques Derrida, das als Politik der Freundschaft ins Deutsche übersetzt worden ist - womit der Übersetzer entweder seine Blindheit oder seine Mutlosigkeit bezeugt hat.
Ähnlich scheint es nun dem Text der Metaphysik zu ergehen – obwohl hier nun gerade die Pluralistik-Tendenz des aristotelischen Denkens Aussage-Thema ist. Schlagartig wird hier sichtbar – aber nur für die Sehenden, wie Aristoteles berühmt und unerkannt, ja verfälscht worden ist.
Aristoteles fragt nicht, wieso es eine Vielheit des Seienden gebe, sondern „wie die Seienden viele sind“, und er antwortet, weil „das Substrat viele wird und ist“ – er spricht also einem Singular-Subjekt ein Plural-Prädikat zu.
In neuerer Zeit ist sogar ein deutscher philosophischer Buchtitel damit bekannt geworden, daß er sich so etwas erlaubt:
Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?
Aristoteles stellt die Frage, wieso es der Verwirklichung nach viele Wesen gebe und nicht nur eines.
Damit scheint er der Auffassung, es gebe nur eines, eine gewisse selbstverständliche Plausibilität einzuräumen. Ist es so eine, wie sie in gewissen philosophischen Milieus auch noch heute zu existieren scheint, wo man mit dem Wort „Wesen“ irgendeine und zwar eine Erhabenheit assoziiert? Ein Mystifizierung des „Wesens“, die den entsprechenden aristotelischen Begriff, der doch der „bekannteste“ ist, verkennt.
Neulich war auch die Bochumer Philosophiehistorikerin Barbara M. Sattler in Wien und ich präsentierte ihr meine These, daß Aristoteles im Buch XIII und XIV die Mathematik zurückzudrängen versuche. Sie meinte dazu, dieses Zurückdrängen beziehe sich auf die pythagoreisch-platonische Mathematik. Tatsächlich war es ja diese Mathematik, die den mathematischen Gegenständen eine volle Realität zugesprochen hat. Vergleichbar mit den aktuellen Entwicklungen der exakten Wissenschaften, wo die Mathematik sich mehr und mehr vordrängt – während draußen die Natur sich auch mehr und mehr vordrängt – aber anders.
Dieses Drängen der Natur gab es allerdings auch schon seinerzeit und Aristoteles sah sich verpflichtet, es zur Kenntnis zu nehmen und zur Kenntnis zu geben. Und das nannte er „Physik“.
Jene Mathematiker identifizierten die Zahlen mit den Ideen, mußten aber feststellen, daß die Zahlen den wahrnehmbaren Dingen anhaften – zum Beispiel der musikalischen Harmonie oder den Himmelskörpern.
Andere wiederum, die nur die Zahlen zugelassen haben, kamen zum Schluß, es gebe gar keine Wissenschaft von den wahrnehmbaren Dingen. Aristoteles betont hingegen, daß es sie gibt – nämlich die Physik. Und daß er das schon oft gesagt habe.
Damit artikuliert er auch die positive Kehrseite seiner Mathematik-Kritik: die Affirmation der Physik.
Wenn einige Pythagoreer-Platoniker behaupten, die natürlichen Körper würden aus den Zahlen hervorgehen, wendet Aristoteles dagegen ein, Schweres oder Leichtes könne doch nicht aus etwas hervorgehen, was mit Schwere oder Leichtigkeit gar nichts zu tun habe. Wie schon an der Stelle mit den Farben, insistiert er auch hier auf Wahrnehmungsqualitäten. Sie und nur sie eröffnen den Zugang, zu dem, was die realen Dinge der Physik sind.
Die mathematischen Axiome beziehen sich nicht auf die wahrnehmbaren Qualitäten, aber sie sind gültig und sie schmeicheln der Seele – und daher neigte man dazu, ihre Realität mit derjenigen der wahrnehmbaren Dinge gleichzusetzen.
So schätzt Aristoteles „erkenntnispsychologisch“ die Täuschungsgefahr ein, die mit dem Ineinandergreifen der unterschiedlichen Seinsmodalitäten gegeben ist, wogegen nur deren sorgfältige Unterscheidung hilft – die Ontologie.
Die bisherige Lektüre von Buch XIII und XIV führt also zu einem vorläufigen Resümé, das sich wissenschaftspolitisch so formulieren läßt: Physik und Ontologie sind als zwei wohlunterschiedene Wissensformen zu praktizieren, um elementare Klarheiten zu gewinnen.
Walter Seitter
Postskriptum
In der letzten Zeit versuche ich gelegentlich, anderen elementare Wahrheiten zu evozieren. Ich frage die Person AB, die gerade ein Rindsgulasch ißt, was aus dieser Speise wird, indem sie gegessen wird und nachdem sie gegessen worden ist. Ich bekomme von AB unterschiedliche Antworten: das Rindsgulasch wird verstoffwechselt; aus dem Rindsgulasch wird Kot; es entsteht ein angenehmes Sättigungsgefühl; ich frage dann: Sättigungsgefühl bei wem? Antwort: bei mir (AB). Nur ganz zögerlich nähert man sich oder vielmehr verweigert man sich einer klaren Antwort. Vielleicht müßte ich die Frage so stellen: wer entsteht aus dem Rindsgulasch?