Protokoll
vom 18.12.2024
411a
26 – 411b 30
Am
11. Dezember 2024 stellte Walter Seitter (per email) folgende Frage:
„Ist
das Bewegen, das vom UB ausgeht (Metaphysik XII)
eher ein psychisches oder physisches - oder ein anderes? Und
wie geht es vor sich?“
Unsere
Antworten (ebenfalls per email) lauteten, wie folgt:
Karl
Bruckschwaiger:
„Das
Unbewegt Bewegende bei Aristoteles bewegt die Anderen auf psychische
Art und Weise,
denn
eine physische Fernwirkung wie die Schwerkraft konnte noch nicht
benannt werden, obwohl sie jederzeit erfahrbar war und eine Bewegung
hervorgerufen durch Raumkrümmung war in der aristotelischen Physik
noch nicht vorgesehen.
Die
bewegten Anderen müssen für psychische Beweggründe aber zugänglich
sein, sie müssen wahrnehmen, wünschen und denken, und das Genießen
und das Denken des Denkens des Unbewegt Bewegenden bewundern, sonst
können sie nicht bewegt werden.“
Sophia
Panteliadou:
Das
unbewegt Bewegende / Das erste Bewegende
„Bei
der Untersuchung der Fragestellung in Bezug auf die Bewegung
in der aristotelischen Physik
stellt sich zunächst die Frage (Phys.
VIII 4): durch was (υπο τίνος κινεîται)
wird etwas bewegt bzw. wofür/für was (δια τί;). Als Antwort
dazu wird hier auf die Bewegungstendenz (die Physis) verwiesen. Das
Anstoßprinzip wird als akzidentieller Beweger (κατα συμβεβηκός)
bezeichnet. Dies widerspricht allerdings dem „großen Zusammenhang“
(Gustav A. Seeck) – ab 254b 12 wird nur noch von der
Selbst-Bewegung (καθ’ αυτό) gesprochen.
Obwohl
das erste Bewegende (UB) zunächst nicht als etwas, das von Natur aus
existiert, gedacht werden kann, ist es vorerst in der Natur, denn die
erste Bewegung hat ihren Anfang in der Natur und wird in den
Naturwissenschaften erforscht.
Im
Buch Θ der Physik wird schlussgefolgert, dass, nachdem das UB keine
Teile hat und auch keine Größe ist, es als einziges eine unendliche
Kraft repräsentiert; es ist Energie, die in endloser Zeit (sich-)
bewegt. Interessant scheint hier zu sein, dass zum einen dieses
beständige/kontinuierliche Merkmal von ‚Bewegung‘ der
Naturphänomene in einem metaphysischen Ursprung fußt, und dass die
Bewegung zum anderen eine Funktion in/der Natur ist.
Der
transzendente Charakter des UB hängt damit zusammen, dass es Energie
ist, die unendlich zur zyklischen Bewegung wird und, deren Ursprung
sich an der Peripherie, d.h. an der äußeren Schicht des Alls,
befindet.
Die
Frage dennoch, die unbeantwortet bleibt, lautet: Wie ist es möglich,
dass das immaterielle/stofflose (ohne Teile und Größe) UB sich am
ersten Himmel (diese Schicht des Alls) befindet? Und, wie entsteht
die Bewegung, bzw. wie funktioniert der Transfer der Bewegung
zwischen immateriellen Substanzen?
Das
erste Bewegende ist das Objekt des Begehrens (1072a 26 / ως
ορεκτόν) und ebenfalls Objekt
der
Liebe (1072b 3 / ως ερώμενον). Nach Aristoteles wird somit
das Begehrte als das Gute, das Immaterielle gedacht, als das
unbewegte und unendliche Wesen und das Göttliche, welches dennoch
erst durch menschliche Erfahrung erkannt werden kann. (Peri
psyches,
433b 10-15). UB ist demnach Kraft und Energie in der Welt der Natur.“
Protokoll
vom 18.12.2024
Peri
psyches,
411a 26 – 411b 30
Die
letzte Sitzung des vergangenen Jahres begann mit der Besprechung der
oben erwähnten (a) und (b) Positionen. Darin ging es vor allem um
die Bewegung
als bewegende Kraft, als erstes Prinzip sowie um die
Unterscheidungskriterien zwischen dem psychischen und dem physischen
Bewegen. Es handelte sich im weiteren Sinn um die Positionierung von
UB. Zuletzt nahmen wir Bezug auf mein Statement im letzten Absatz
(siehe oben (b)). Darin betonte ich, dass erõmenon
in Zusammenhang mit dem „Unbewegt Bewegende“ an dieser Stelle,
und zwar da, wo das erste Bewegende als Objekt
des Begehrens und der Liebe (1072a 26–1072b 3) vorgestellt wird,
dieses ‚Bewegende‘ – im Kontext der Seele – eine
rückbezügliche Bewegung supponiert; dies bedeutet, dass das erste
Bewegende nicht nur als Objekt des Begehrens (1072a 26 – als
orekton)
und Objekt der Liebe (1072b 3 – als
erõmenon)
zu interpretieren sei, sondern, dass hierbei notwendigerweise die
Position des Subjekts mitgedacht werden sollte – auch wenn dies an
dieser Stelle nicht explizit eingeführt wird.
In
Verbindung mit dem Akt und der Funktion von ‚bewegen‘ bezogen auf
obige Debatte stellt Walter Seitter erneut die Frage: „Was ist ein
psychisches Bewegen?“ und ebenfalls, „was ist ein physisches
Bewegen?“ Bedeutet ‚bewegen‘, dass es sich dabei um eine
Motivation handelt? Wir stellen verschiedene Versionen mit
daraufbezogenen möglichen Variablen vor, wie: ‚überzeugen‘,
‚lieben‘, ‚zurücklieben‘, ‚weg-laufen‘, ‚zu-gehen‘‚
‚durch Reden motivieren‘, ‚agieren‘, ‚reagieren‘ etc.
Diese Bewegungen vom Ort A zum Ort B beziehungsweise vom Subjekt B
zum Subjekt A können rückbezüglich sein – müssen aber nicht.
Als
nächstes bemühen wir uns obige Fragestellungen bei der Lektüre der
anschließenden Passage des gelesenen Textes einzubeziehen. Denn die
Abschlussseiten des ersten Buches von Peri
psyches könnten
hier als Einleitung zum darauffolgenden Buch II interpretiert werden,
nämlich in Bezug auf die zwei Charakteristika der Seele: Bewegung
und Erkennen.
Diese zwei werden schon hier eingeführt als Hinweis darauf, dass die
Seele ein bewegendes
Prinzip
ist, und zwar bewegend durch
Erkenntnis – hier greife ich etwas voraus.
Aber
nicht nur das Erkennen ist Sache der Seele (411a 26ff), sondern
ebenso das Wahrnehmen sowie das Begehren und das Wollen und überhaupt
die Strebungen. Die Frage aber, die hier gestellt wird, lautet,
gehört die Seele allen diesen Zuständen des Lebendigseins
gemeinsam oder einer jeden der Eigenschaften getrennt voneinander?
Und weiteres: Kann die Seele zerteilt werden, beziehungsweise, ist es
möglich, dass einzelnen Körper- teilen/orten ein entsprechendes
Stück Seele zukommt? Was passiert, wenn nicht nur ein Körperteil
fehlt, sondern wenn ein Organ, wie beispielsweise das Herz, dem
Körper entfernt wird, oder wenn das Gehirn zerstört wird?
Aristoteles‘
Intention an dieser Stelle des ersten Buches (411b 5–14) ist die
Verwerfung des Gedankens einer Zerstückelung der Seele in Teilen und
die Positionierung eines jeden Teiles in einem Körperteil, denn
andernfalls würde die Suche nach dem Zusammenhalt ins Grenzenlose
führen. Buchheim macht uns hier aufmerksam darauf, dass Aristoteles,
diese Fragen im nächsten Buch beantwortend, konstatiert, dass
„‚leben‘ (zên) in allen Teilen einer Seele und deren
Vollbringungen enthalten ist (vgl. II 2, 413a 20–25).“ (Thomas
Buchheim, Aristoteles,
De
anima,
S. 99, Fn. 52).
Die
Übersetzung der Textstelle 411b 25–27 scheint unterschiedlichen
Text-Vorlagen nachzugehen. Hierbei folge ich der Interpretation von
Ross, dementsprechend, die Beobachtung des hier beschriebenen
Phänomens zeigt, dass weder die Teile der Seele voneinander
unabhängig und autonom sein können noch, dass die Seele einer
Teilung zugänglich ist. Demgegenüber verweist uns Buchheim
allerdings an die Textstelle 413b 16–24 des zweiten Buches, wonach
«in einem lebendigen Individuum die Seele „zwar der wirklichen
Vollbringung nach nur eine, aber dem Vermögen nach mehrere“ sei.»
Am
Ende kehren wir zur ursprünglichen Frage des heutigen Tages zurück,
nämlich, ob das „unbewegt Bewegende“ (UB) die Welt motiviert,
indem es alles, was in der Welt existiert, mühelos, pausenlos und
beständig, d.h., kontinuierlich fortbewegt.
Walter
Seitter schlägt vor, den Begriff „Animismus“ als parallelen
Begriff zum UB in Verbindung mit der Beseeltheit der Natur
mitzudenken, was – meiner Ansicht nach – vom aristotelischen
Gedankengang wegführe. Der Gedanke jedoch das „U“ des UB in
seiner Funktion als motivierend
zu interpretieren, hängt dennoch mit dem bewegenden Prinzip
zusammen. Das „U“ wird in diesem Kontext von uns zudem als
Lust-realisierend gedeutet, was zu einem anderen Wissensbereich*)
führt, und als „Lustprinzip“ definiert wird. „Lust“ und
„Motivieren“ sind in unserer Diskussion die zwei Wörter, die wir
mit dem psychischen und physischen Bewegen verknüpfen, und welche
signifikant dem Wort Leben
und dem Lebendigsein
(to
zên)
zukommen.
(*)
Auch in Lacans Schriften finden sich Gedanken, die unsere Diskussion
über das UB bereichern würden. Wie beispielsweise: „Wenn wir
Lustprinzip dies […] nennen, dass durch sein Verhalten das
Lebendige stets auf die Stufe minimaler Erregung zurückkehrt, und
dass dieses Prinzip seine Ökonomie regelt, […].“ Jacques Lacan,
„Über
einen Diskurs, der nicht des Scheins wäre“,
Das Seminar, Buch XVIII, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant,
2023, S. 21.)
Sophia
Panteliadou
Wien,
05.01.2025