τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 26. März 2025

De Anima - Peri Psyches lesen 20 - 415a 24 - 415b 14

 

19. März 2025


Im Buch I hat Aristoteles  verschiedene ältere Ansichten über das Wesen der Seele, ihre verschiedenen Arten und ihre Zusammensetzung referiert. Zuvor hat er auch festgestellt, daß die Seele Gegenstand verschiedener Zugänge und folglich auch Thema  für unterschiedliche Disziplinen und  Spezialisten sein kann  - etwa für den Naturforscher oder den Dialektiker. Oder auch für den Techniker oder den Mathematiker oder den Ersten Philosophen.  So 403a 29ff..  Damit schneidet er ein wichtiges Kapitel an: die Differenzierung zwischen verschiedenen menschlichen Leistungen (poetischen, praktischen, kontemplativen), den jeweils bestimmte Wissenschaftsgattungen zugeordnet sind. 

 

Wenn er dann seine eigenen Definitionen und Unterscheidungen formuliert,  sagt er nicht dazu, in welcher Eigenschaft er das gerade tut; man kann aber unterstellen, daß  er sich der Vielschichtigkeit des Gegenstandes bewußt ist, weshalb jede einzelne Fragestellung nur eine partielle ist. Aber auch dessen, daß eigentlich  die Inhaber der Seelen, die beseelten Wesen, die Lebewesen, die lebenden Körper   untersucht werden - und daß dazu auch die Menschen gehören und folglich auch er selber. 

Diese Selbsteinbeziehung wird von Aristoteles nie ganz außer Acht gelassen und vielleicht ist das eine Differenz, die ihn von der modernen Naturwissenschaft trennt, die sich seit dem  17. Jahrhundert durchgesetzt hat . Vielleicht hat Rudolf Kohoutek mit seinem Hinweis auf die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston in diese Richtung gedeutet. Allerdings hat sich der „Aristotelismus“, der bis ins 17. Jahrhundert dominiert hat, auch nicht bewährt; er hat die Forschung eher blockiert.


Unsere Aristoteles-Lektüre sollte kein Aristotelismus sein, keine schlichte Aristoteles-Verehrung, wir können ihn zwar verehren, aber das wäre zu wenig. Wir sollten in unterschiedlichen Richtungen etwas leisten - nicht bloß „jubilieren“ (Bruno Latour).

Aristoteles fragt nach den Leistungen, durch die sich die verschiedenartigen Lebewesen auszeichnen. Er sagt „Werke“ und meint damit  wahrnehmbare Tätigkeiten mitsamt Ergebnissen.

Die ersten und gemeinsten Leistungen  sind Ernährung und Zeugung.

Es empfiehlt sich, diese sehr bekannten Leistungen gelegentlich noch primitiver zu formulieren als Aristoteles das tut. Ernährung ist Einverleibung von Fremdkörpern durch einen Körper. Solche Fremdkörper sind etwa für die Pflanzen das Wasser. Bei der Aufnahme von  Licht und von Erde ist es schon schwieriger, von Einverleibung zu sprechen, denn die Aufnahme ist selektiv - es wird nicht einfach von außen etwas genommen und eingebaut. Es wird nicht gebaut sondern genommen und verwandelt, zu sich verwandelt. Aristoteles nennt das „Verbrauch“.

 Verwandlung zu sich - transsubstantiatio in se ipsum.


Sozusagen die Gegenrichtung ist die Zeugung oder Fortpflanzung .

Aber dazu sind nach Aristoteles nicht alle Lebewesen fähig, sondern nur die vollkommenen Exemplare, die nicht verstümmelten, die nicht verletzten.

Aristoteles imaginiert nicht eine hundertprozentig vollkommene Welt, sondern hat auch Begriffe für die unvollkommenen Mitglieder  der Welt. Hier ein anderes Wort als dasjenige im Buch V der Metaphysik,  das zu den dreißig Hauptbegriffen zählt und das von allen anderen Lesern der Metaphysik sorgfältig verschwiegen, übersehen, ignoriert worden ist. Von Aristoteles jedoch in seiner kosmologischen Tragweite ernstgenommen worden ist. Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 210-212. (Im übrigen hat dieses Buch nur eine Abbildung nämlich die Aristoteles-Skulptur am Rande des Aristoteles-Platzes in Thessaloniki, die vom Bildhauer deutlich mit Verletzungen gezeichnet, ausgezeichnet worden ist; op.cit.: 219-222).

Außer den verstümmelten Lebewesen sind noch andere unfähig zum Zeugen; nämlich die „automatisch“ oder „von selber“ entstandenen - eben die selber nicht durch richtige Zeugung entstandenen. 

Was aber ist „richtig zeugen“?

to poiesai heteron hoion auto - ein anderes machen wie es selber (414a 28),

ein Tier ein neues Tier, ein junges Tier, eine Pflanze eine neue Pflanze, eine ganz kleine, die groß werden soll.

Ich wage es, die kurze aristotelische Serienbildung ein bißchen zu verlängern und voranzuschreiben: ein Mensch einen Menschen. Lacan nennt das: le petit d’homme.

In der Metaphysik, die auch Physik ist und nicht nur  Meta, hämmert Aristoteles mehrfach den Satz „der Mensch zeugt einen Menschen“ (1070a 31)

Das ist ein Machen, nach dem die poietischen oder Herstellungswissenschaften (z. B. Poetik, Heilkunde, Weinmischungskunstlehre) benannt sind. Die einschlägige Wissenschaft wäre die Zeugungskunstlehre: wie macht man richtig ein Kind?

Die Menschen machen das Zeugen sexuell, also bisexuell oder amphigonisch, und nicht monogonisch. Wahrscheinlich wird die Zeugungskunstlehre über die Sexualwissenschaft noch hinausgehen müssen  und auch in die Ökonomik einmünden, die praktische Lehre zum richtigen Haushalten. 

Und dann noch die Angabe des übergeordneten Zwecks, der damit erreicht werden soll: 

sie tun das, damit sie am Immerdar und am Göttlichen teilhaben, soweit sie das können. Das Göttliche wird dazugesagt, dazugedacht - soll aber der Grund sein für das allgegenwärtige sichtbare, hörbare, riechbare und so weiter weiter und weiter pflanzen und zeugen und gebären.

Sie, alle die -  tun das, soviel  ich weiß, hat Aristoteles es auch getan, denn er war nicht so verletzt wie sein bronzener Abguß, den verletzten Abguß bekam er nur,  weil er derartige Verletztheiten nicht verschwiegen sondern ausgesprochen hat. 

Und diese „alle“ werden anschließend neu verbalisiert: panta  (415b 1).


Und was machen die Übersetzer? Alle - außer Klaus Corcilius und dem Neugriechen - schreiben  
„alles“.  Sie schreiben einfach „alles“ - so als ob ich jetzt geschrieben hätte: alles schreibt ….. 

Ich aber gewähre auch denen, die katastrophal-singularistisch schreiben „alles“,  den Plural, der ihnen zusteht, obwohl sie ihn eigentlich nicht verdienen , weil sie ihn anderen - den Tieren, den Pflanzen - absprechen.


Und was tun diese alle? Jetzt spricht Aristoteles deutlicher aus, daß sie die oben dazugesagte Teilhabe anstreben, sie streben nach jenem. Und Aristoteles verallgemeinert:  alle tun das, was sie tun,  der Natur gemäß um jenes willen. 

Das „Worumwillen“ ist der aristotelische Spezialausdruck für den Zweck, der durch eine Bewegung oder Handlung, durch eine herstellende oder eine gebrauchende Kunst erreicht werden kann oder soll. 


Hier geht es um die Immerwährendheit, die den Menschen versagt ist - das heißt alle Menschen, auch die wohlgeratenen, leiden an einer Schwäche und Unvollkommenheit, nämlich an der Sterblichkeit, gegen die sie immerhin eine Kommentierung ins Werk setzen können: die Fortpflanzung, also die Erzeugung neuer Individuen, die Erzeugung einer Kette aus ähnlichen Gliedern, die weiterreicht und in der sie sich selber eine Dauerhaftigkeit verschaffen können - wenngleich eine sehr gebrochene, immer wieder unterbrochene , aber doch auch weiter gehende - die immerhin bis zudem jetzt  Lebenden geführt hat. 

Aristoteles konstruiert einen Zusammenhang zwischen den gut ausgestatteten aber immer noch hinfälligen Menschen, die im Hinblick auf ein dauerhaftes Wesen eine gebrochene Dauerhaftigkeit zustande bringen. Diesem dauerhaften Wesen spricht er Göttlichkeit zu. Aber seine Erscheinungskraft scheint so  schwach zu sein, daß ihr von seiten der Menschen nachgeholfen werden muß, indem sie es bewundern und gebrochen nachahmen. 

Indem die Menschen das göttliche Wesen bewundern und nachahmen, stützen sie seine prekäre Erscheinungskraft.


Mit der Aussage, das Leben sei das Sein der Lebewesen (415b 13) fügt Aristoteles seiner Ontologie eine notwendige Ergänzung hinzu. Die Seinsweise der Menschen wird zur Ontologie hin aufgeschlossen. Und jetzt setzt Aristoteles anstatt des substantivierten Partizips „das Seiende“ den Infinitiv „das Sein“ ein,   der sich flüssiger, weicher anfühlt.  

Literatur: Peter Heuer:  Leben als Sein (2024)







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