19. März 2025
Im
Buch I hat Aristoteles verschiedene ältere Ansichten über das Wesen
der Seele, ihre verschiedenen Arten und ihre Zusammensetzung referiert.
Zuvor hat er auch festgestellt, daß die Seele Gegenstand verschiedener
Zugänge und folglich auch Thema für unterschiedliche Disziplinen und
Spezialisten sein kann - etwa für den Naturforscher oder den
Dialektiker. Oder auch für den Techniker oder den Mathematiker oder den
Ersten Philosophen. So 403a 29ff.. Damit schneidet er ein wichtiges
Kapitel an: die Differenzierung zwischen verschiedenen menschlichen
Leistungen (poetischen, praktischen, kontemplativen), den jeweils
bestimmte Wissenschaftsgattungen zugeordnet sind.
Wenn
er dann seine eigenen Definitionen und Unterscheidungen formuliert,
sagt er nicht dazu, in welcher Eigenschaft er das gerade tut; man kann
aber unterstellen, daß er sich der Vielschichtigkeit des Gegenstandes
bewußt ist, weshalb jede einzelne Fragestellung nur eine partielle ist.
Aber auch dessen, daß eigentlich die Inhaber der Seelen, die beseelten
Wesen, die Lebewesen, die lebenden Körper untersucht werden - und daß
dazu auch die Menschen gehören und folglich auch er selber.
Diese
Selbsteinbeziehung wird von Aristoteles nie ganz außer Acht gelassen
und vielleicht ist das eine Differenz, die ihn von der modernen
Naturwissenschaft trennt, die sich seit dem 17. Jahrhundert
durchgesetzt hat . Vielleicht hat Rudolf Kohoutek mit seinem Hinweis auf
die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston in diese Richtung
gedeutet. Allerdings hat sich der „Aristotelismus“, der bis ins 17.
Jahrhundert dominiert hat, auch nicht bewährt; er hat die Forschung eher
blockiert.
Unsere
Aristoteles-Lektüre sollte kein Aristotelismus sein, keine schlichte
Aristoteles-Verehrung, wir können ihn zwar verehren, aber das wäre zu
wenig. Wir sollten in unterschiedlichen Richtungen etwas leisten - nicht
bloß „jubilieren“ (Bruno Latour).
Aristoteles
fragt nach den Leistungen, durch die sich die verschiedenartigen
Lebewesen auszeichnen. Er sagt „Werke“ und meint damit wahrnehmbare
Tätigkeiten mitsamt Ergebnissen.
Die ersten und gemeinsten Leistungen sind Ernährung und Zeugung.
Es
empfiehlt sich, diese sehr bekannten Leistungen gelegentlich noch
primitiver zu formulieren als Aristoteles das tut. Ernährung ist
Einverleibung von Fremdkörpern durch einen Körper. Solche Fremdkörper
sind etwa für die Pflanzen das Wasser. Bei der Aufnahme von Licht und
von Erde ist es schon schwieriger, von Einverleibung zu sprechen, denn
die Aufnahme ist selektiv - es wird nicht einfach von außen etwas
genommen und eingebaut. Es wird nicht gebaut sondern genommen und
verwandelt, zu sich verwandelt. Aristoteles nennt das „Verbrauch“.
Verwandlung zu sich - transsubstantiatio in se ipsum.
Sozusagen die Gegenrichtung ist die Zeugung oder Fortpflanzung .
Aber
dazu sind nach Aristoteles nicht alle Lebewesen fähig, sondern nur die
vollkommenen Exemplare, die nicht verstümmelten, die nicht verletzten.
Aristoteles
imaginiert nicht eine hundertprozentig vollkommene Welt, sondern hat
auch Begriffe für die unvollkommenen Mitglieder der Welt. Hier ein
anderes Wort als dasjenige im Buch V der Metaphysik, das zu den dreißig
Hauptbegriffen zählt und das von allen anderen Lesern der Metaphysik
sorgfältig verschwiegen, übersehen, ignoriert worden ist. Von
Aristoteles jedoch in seiner kosmologischen Tragweite ernstgenommen
worden ist. Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen
(Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 210-212. (Im übrigen hat
dieses Buch nur eine Abbildung nämlich die Aristoteles-Skulptur am Rande
des Aristoteles-Platzes in Thessaloniki, die vom Bildhauer deutlich mit
Verletzungen gezeichnet, ausgezeichnet worden ist; op.cit.: 219-222).
Außer
den verstümmelten Lebewesen sind noch andere unfähig zum Zeugen;
nämlich die „automatisch“ oder „von selber“ entstandenen - eben die
selber nicht durch richtige Zeugung entstandenen.
Was aber ist „richtig zeugen“?
to poiesai heteron hoion auto - ein anderes machen wie es selber (414a 28),
ein Tier ein neues Tier, ein junges Tier, eine Pflanze eine neue Pflanze, eine ganz kleine, die groß werden soll.
Ich
wage es, die kurze aristotelische Serienbildung ein bißchen zu
verlängern und voranzuschreiben: ein Mensch einen Menschen. Lacan nennt
das: le petit d’homme.
In der Metaphysik, die auch Physik ist und nicht nur Meta, hämmert Aristoteles mehrfach den Satz „der Mensch zeugt einen Menschen“ (1070a 31)
Das
ist ein Machen, nach dem die poietischen oder
Herstellungswissenschaften (z. B. Poetik, Heilkunde,
Weinmischungskunstlehre) benannt sind. Die einschlägige Wissenschaft
wäre die Zeugungskunstlehre: wie macht man richtig ein Kind?
Die
Menschen machen das Zeugen sexuell, also bisexuell oder amphigonisch,
und nicht monogonisch. Wahrscheinlich wird die Zeugungskunstlehre über
die Sexualwissenschaft noch hinausgehen müssen und auch in die Ökonomik
einmünden, die praktische Lehre zum richtigen Haushalten.
Und dann noch die Angabe des übergeordneten Zwecks, der damit erreicht werden soll:
sie
tun das, damit sie am Immerdar und am Göttlichen teilhaben, soweit sie
das können. Das Göttliche wird dazugesagt, dazugedacht - soll aber der
Grund sein für das allgegenwärtige sichtbare, hörbare, riechbare und so
weiter weiter und weiter pflanzen und zeugen und gebären.
Sie,
alle die - tun das, soviel ich weiß, hat Aristoteles es auch getan,
denn er war nicht so verletzt wie sein bronzener Abguß, den verletzten
Abguß bekam er nur, weil er derartige Verletztheiten nicht verschwiegen
sondern ausgesprochen hat.
Und diese „alle“ werden anschließend neu verbalisiert: panta (415b 1).
Und was machen die Übersetzer? Alle - außer Klaus Corcilius und dem Neugriechen - schreiben
„alles“. Sie schreiben einfach „alles“ - so als ob ich jetzt geschrieben hätte: alles schreibt …..
Ich
aber gewähre auch denen, die katastrophal-singularistisch schreiben
„alles“, den Plural, der ihnen zusteht, obwohl sie ihn eigentlich nicht
verdienen , weil sie ihn anderen - den Tieren, den Pflanzen -
absprechen.
Und
was tun diese alle? Jetzt spricht Aristoteles deutlicher aus, daß sie
die oben dazugesagte Teilhabe anstreben, sie streben nach jenem. Und
Aristoteles verallgemeinert: alle tun das, was sie tun, der Natur
gemäß um jenes willen.
Das
„Worumwillen“ ist der aristotelische Spezialausdruck für den Zweck, der
durch eine Bewegung oder Handlung, durch eine herstellende oder eine
gebrauchende Kunst erreicht werden kann oder soll.
Hier
geht es um die Immerwährendheit, die den Menschen versagt ist - das
heißt alle Menschen, auch die wohlgeratenen, leiden an einer Schwäche
und Unvollkommenheit, nämlich an der Sterblichkeit, gegen die sie
immerhin eine Kommentierung ins Werk setzen können: die Fortpflanzung,
also die Erzeugung neuer Individuen, die Erzeugung einer Kette aus
ähnlichen Gliedern, die weiterreicht und in der sie sich selber eine
Dauerhaftigkeit verschaffen können - wenngleich eine sehr gebrochene,
immer wieder unterbrochene , aber doch auch weiter gehende - die
immerhin bis zudem jetzt Lebenden geführt hat.
Aristoteles
konstruiert einen Zusammenhang zwischen den gut ausgestatteten aber
immer noch hinfälligen Menschen, die im Hinblick auf ein dauerhaftes
Wesen eine gebrochene Dauerhaftigkeit zustande bringen. Diesem
dauerhaften Wesen spricht er Göttlichkeit zu. Aber seine
Erscheinungskraft scheint so schwach zu sein, daß ihr von seiten der
Menschen nachgeholfen werden muß, indem sie es bewundern und gebrochen
nachahmen.
Indem die Menschen das göttliche Wesen bewundern und nachahmen, stützen sie seine prekäre Erscheinungskraft.
Mit
der Aussage, das Leben sei das Sein der Lebewesen (415b 13) fügt
Aristoteles seiner Ontologie eine notwendige Ergänzung hinzu. Die
Seinsweise der Menschen wird zur Ontologie hin aufgeschlossen. Und jetzt
setzt Aristoteles anstatt des substantivierten Partizips „das Seiende“
den Infinitiv „das Sein“ ein, der sich flüssiger, weicher anfühlt.
Literatur: Peter Heuer: Leben als Sein (2024)
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