τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Samstag, 24. Februar 2024

In der Metaphysik lesen – Post-Protokoll II

19. Februar 2024

 

Dieses zweite Post-Protokoll könnte auch Para-Protokoll heißen, weil es zu den bisherigen regulären Protokollen mehr lateral hinzutritt: nicht von den Lektüre-Gesprächen auf dem Hohen Markt kommend, sondern von einem Gespräch in meinem „Montags-Café“ – nämlich dem Teehaus Haas & Haas hinter der Stephanskirche, welches Haus nach wie vor dem Deutschen Orden gehört und daher im sogenannten Volksmund auch „Deutsches Haus“ heißt; natürlich hat es auch einen engen örtlichen Bezug zur Stephanskirche, und wenn man im Sommer heraußen sitzen kann, hört man vor und um und nach Zwölf die Glockenschläge und das Glockenläuten dieser Kirche nach dem Glockengebimmel der Deutsch-Ordens-Kirche – also insgesamt eine Art Konzert, aber ein vormodernes, während dessen man nicht zu striktem Schweigen verpflichtet ist; und drittens hat das Teehaus – für mich – einen engen Bezug zu Conrad Celtis, dem einzigen in alten Zeiten gelehrt habenden Philosophen in Wien, dessen Epitaph an der Ostwand des Nordturmes, des halben, angebracht ist und in dem er zwar lateinisch, aber immerhin, sagt, er lebe immer noch.

 

Und in diesem Teehaus habe ich mich neulich mit Cezarina Sima getroffen, die ich vom Philosophencafé kenne.

 

Unser Gespräch ging von zwei unterschiedlichen Begrifflichkeiten aus: den sogenannten „Werten“, ohne die ein gutes Leben nicht möglich zu sein scheint, und dann von der Frage, ob es uns Menschen möglich sei, das „Wesen“ irgendwelcher Dinge zu erkennen, wo doch unsere Wahrnehmungen immer nur subjektiv ist.

 

Cezarina sagte, die Werte seien in uns und damit seien sie auch schon gegeben. Ich dazu: man sollte sie schon näher benennen, damit nicht jeder einfach auf „seinen“ Werten beharrt und gleichzeitig voraussetzt, die anderen Menschen hätten ohnehin dieselben Werte.

 

Um sie besprechbar zu machen, könne man unterscheiden zwischen verschiedenen Sorten von Werten: dem Angenehmen und dem Nützlichen und dem Edlen. Diese drei Gattungen des „Guten“ seien sehr unterschiedlich – aber alle drei seien „notwendig.“

 

 

Übergang zur „Wesensfrage“ - das „Wesen“ dieses oder jenes Dinges? Ist das eine „ontologische“ Frage. Ich: ja schon eher, aber wenn es sich um konkrete materielle Dinge handelt, vielleicht eine Frage der „Physik“. Aber eine, die man nicht unbedingt einem Physiker oder Chemiker vorlegt.

 

Eine, die man selber mit eigener Wahrnehmung und mit Umgangssprache zu beantworten versuchen kann.

 

Auf dem Kuchenteller liegt neben der kleinen Kuchengabel noch eine halbe Walnuß. Der Vergleich zwischen den beiden Dingen zwingt geradezu zur Vermutung, daß es sich um zwei ganz weit auseinander liegende „Wesen“ handelt, obwohl die beiden Dinge zu einem funktionalen nämlich gastronomischen Komplex zusammengehören.

 

Wie aber nun das Wesen der Nuß bestimmen, sagbar machen, welche Wahrnehmungsversuche anstellen mit ihr: anschaun, angreifen, in den Mund stecken, kauen, schmecken? Schmecken, ob sie gut schmeckt, so wie erwartet oder aber unerwartet steinhart oder fürchterlich grauslich schmeckend . . . . ?

 

Mit welchen Wörtern auf die Wahrnehmungen reagieren? Mit welchen „Wahrgebungen“? Wahrgebungen bilden den Gegenpol, den Reaktionspol, den Antwortpol zu Wahrnehmungen. Die verschiedenen Empfindungsqualitäten kann man halbwegs in Worte fassen. 

 

Aber das Wesen, das eine Spezielle dieses Dinges, seine Gesamtqualität – das Nußhafte? Kann ich immer nur das Wort „Nuß“ wiederholen, vielleicht mit leichten verbalen Abwandlungen umschreiben? 

 

Oder wir stoßen noch weiter vor zum „Eigentlichen“ und ersetzen die Was-Frage durch die Daß-Frage oder vielmehr durch die Daß-Antwort: das da ist!

 

Und dieses „Daß“ oder „Ist“ legt eine Reihe von verbalen Reaktionen aus, von Begriffen wie: Verhalten, Tätigkeit, Wirksamkeit. Beweglichkeit, nämlich Selbstbewegung.

 

Diese Begriffe haben mit dem Wesen der Nuß selber nichts zu tun, sie berühren eine andere Dimension, sie eröffnen sozusagen neben dem Wesen andere Modalitäten.

 

Eine Vielfalt von Modalitäten – auf die der Begriff „Ontologie“ tatsächlich zutrifft, der im 17. Jahrhundert von einigen nicht berühmt gewordenen Aristotelikern erfunden worden ist. Sie wollten damit eine von Aristoteles ausdrücklich „definierte“ aber nicht benannte „Wissenschaft“ benennen. Neben der viel besser bekannten Physik und Mathematik. Auch neben der von ihm sehr umfangreich ausgearbeiteten Logik – und in einem Naheverhältnis zu ihr.  

 

Und da spricht Cezarina, die diese aristotelischen Sachen so gut wie gar nicht kennt, das Wort „sprudeln“ aus, welches diese kleine Explosion von formalen Modalitäten neben dem Wesen, mit dem Daß, vielleicht auch mit dem Wie, und mit der Tätigkeit, beinahe lautmalerisch nachbildet. Denn das Sprudeln kann man auch hören, und wenn es seine Sichtbarkeit verstärkt, sieht man es glitzern. 

Zu den Begriffen, die sich da aufdrängen, gehört auch das Mögliche, natürlich das Eine und das Vielfältige.

 

 

Der Umschlag vom Was zum Daß – über das vermittelnde Wie: das ist nun wirklich ein Sprung, ein Ursprung, ein Katalysator der Ontologie, wo die Ausfaltung verschiedener Seinsmodalitäten anbricht, ausbricht, quasi vulkanisch.

 

Das Begriffsnetz, das Aristoteles von da aus aufgespannt hat, ist sehr umfangreich. Es taucht in dem Metaphysik genannten Buch immer wieder auf, wird weiter gesponnen. Immer wieder auf die Physik und auf die Mathematik bezogen – und davon abgesetzt.

 

Aber es wird auch von einer Dynamik angetrieben, die auf eine andere, sozusagen höhere Ebene verweist. Auf eine Ebene, die dann mit dem Wort „Gott“ bezeichnet wird - bei dem nämlich das Wesen selber Tätigkeit sein soll. 

 

Das Gespräch im Teehaus brachte innerhalb kurzer Zeit das Wort „sprudeln“ hervor - das war schon ein eine beachtliche Steigerung: nämlich ein Wort, ein sehr bekanntes, das etwas sehr Bekanntes bezeichnet: das „Sprudeln“ selber.

 

Walter Seitter

Montag, 12. Februar 2024

In der Metaphysik lesen - Post-Protokoll I

 

               Die Metaphysik ist das Buch,              

               das aus den meisten   

               Einzelteilen

               zusammengesetzt ist.

               (Joe Sachs)

 

 

 

7. Februar 2024

 

                          

 

Beim Vorlesen und Anhören des letzten regulären Protokolls der Metaphysik-Lektüre, das sich hauptsächlich auf die Bücher XIII und XIV bezieht, welche von der Mathematik ausgehen und außer vielem Herumkritisieren an pythagoreisch-platonischem Philosophieren immerhin zwei Passagen enthalten, die die theologischen bzw. theographischen Aussagen des Buches XII ergänzen und weiterführen (allerdings auch symptomal die Scnwäche (ja die Verstümmeltheit) dieser ganzen Theologie zu erkennen geben), wird klar, daß die Schwierigkeiten (Aristoteles nennt sie „Ausweglosigkeiten“) des Textes sich schon längst auf seine Leser übertragen haben, die sich außerstande sehen, die wichtigsten Charakterisierungen, die das „erste Wesen“ oder „erste Prinzip“ im ungefähr vor einem Jahr gelesenen und natürlich auch protokollierten Buch XII erfährt, zu benennen.

 

Im Unterschied zu den mathematischen Entitäten zeichnen sich die natürlichen Wesen dadurch aus, daß sie „abgetrennt“, das heißt selbständig oder extra existieren - zum Beispiel Sophia Panteliadou. 

 

Aber auch das „erste Wesen“, das (leider) unwahrnehmbar ist, existiert laut Aristoteles selbständig. Zwar hängen die natürlichen Wesen von der Existenz des ersten Wesens ab – sie sind aber nicht Teile davon, sondern existieren selbständig - zum Beispiel Walter Seitter.

 

Als Aristoteles-Leser muß man manche Aussagen des Textes auf sich selber beziehen, denn man gehört zu dem, von dem Aristoteles sagt, daß es „Natur“ ist und vom „ersten Wesen“ abhängt. Wenn man das nicht tut, versäumt man den Sinn dieser Aussagen total.

 

Allerdings kann man den Sinn der Aussagen auch damit versäumen, daß man während der Lektüre, während der Lektüre-Gespräche, beim Anhören des Protokolls „abwesend“ ist – unaufmerksam, vergessend, anderswo. 

 

Nun ist die „Abwesenheit" von dem berühmten Philosophen Jacques Derrida zum heimlichen Ideal ernannt worden, indem er die Anwesenheit als „metaphysischen“ Begriff verdächtigt, diagnostiziert, zum Feind erklärt hat. Das ist seine Heidegger-Huldigung und -Imitation. Eine verhängnisvolle Verwechslung von Physik und „Metaphysik“. 

 

Tatsächlich hingegen ist die Anwesenheit (Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart) eine physische (incl. psychische) Leistung (Leistung ist eine sehr gute Übersetzung von energeia, die leider von den professionellen Aristoteles-Spezialisten (ich bin ein dilettierender)) nicht einmal in Erwägung gezogen wird und daher fühlt man sich durch das Aristoteles-Lesen nicht dazu aufgerufen (Aristoteles würde dazu sagen: „bewegt“), die Leistung der Anwesenheit zu erbringen - und nicht die wichtigsten Aussagen immer wieder zu vergessen.

 

Die Lehre vom „unbewegt“, vom unablässig Bewegenden versteht man nur, wenn man das Bewegtwerden selber an sich geschehen läßt und deshalb auch spürt. Bewegtwerden zu einem selber bewegend also tätig Werden, zum Beispiel neugierig und aufmerksam werden.

 

 

Auf meine Frage, welche qualitative Bestimmung im Buch XII dem „ersten Wesen“ zunächst zugesprochen wird, keine Antwort. Ich muß die Stelle im Abschnitt 7, wo so eine Bestimmung mit einem recht bekannten Begriff, nämlich „Lust“ gegeben wird, selber vorlesen. Daraufhin die Reaktionen: das ist aber ein primitiver Begriff und die Wörter Leben und Lust mag ich nicht! Ich erkläre, daß das Wort „primitiv“ gar nicht so abwegig ist – es heißt nämlich „erstartig“ und paßt genau zum „ersten Wesen“. Außerdem ist es ein Grundwort der in Wien erfundenen und immer noch angesehenen Psychoanalyse, die ja sogar von dem hoch verehrten und frankophonen Jacques Lacan in Ehren gehalten wird. Auch die Psychoanalyse beansprucht, Aussagen zum Anfänglichen, Elementaren zu machen.

 

Ich mache eine bestimmte Aussage - weiß nicht mehr welche, ist auch egal, denn es geht mir im Moment um das Aussagesubjekt als solches. Meine Aussage wird so qualifiziert: das ist aber „seitterisch!".

 

Gemeint entweder: seitterisch und daher kaum zutreffend; oder: seitterisch und folglich nicht panteliadisch – im Sinne von zwei Redemöglichkeiten, die gar nicht zu beurteilen sind.

 

Tatsächlich sind alle meine Aussagen seitterisch, weil von mir gemacht, von mir gewissermaßen erfunden, sofern ich nicht nur andere Aussagen nachspreche.

 

Die seitterischen Aussagen sind aber auch zu beurteilen: sie können mehr oder - weniger angemessen, richtig, wahr sein – oder gar nicht angemessen, richtig, wahr. Die bloße Tatsache, daß sie seitterisch sind, qualifiziert oder disqualifiziert sie nicht.

 

Ich stelle wieder einmal eine Aussage in den Raum, die ich schon öfter gemacht habe und füge die Bemerkung dazu, daß Aristoteles sie zu wenig betont habe. Nämlich: alle Sachen sind auch Ursachen, womit die in der deutschen Sprache gut wahrnehmbare Nähe zwischen den beiden Begriffen hervorgehoben wird. Irgendwann habe ich das mit Karl Bruckschwaiger schon besprochen und er hat damals akzeptiert, daß er - als Sache – auch Ursache ist, insofern er einen Sohn hat. Jetzt können wir uns darauf einigen, daß er – für uns – den Hermann von Kärnten übersetzt. Auch insofern wirkt er ursächlich.

 

Meine Frage, ob im aristotelischen Text, in dem ja auch die „Ursache“ ein wichtige Rolle spielt, irgendwo eine allgemeine Ursächlichkeit der Sachen angedeutet wird. Ich schlage vor, bei den Kategorien nachzuschauen, ob da welche dabei sind, die so eine Ursächlichkeit nahelegen. Eine Antwort: alle Kategorien haben einen Bezug zur Ursächlichkeit.

 

Das ist so eine Wischi-Waschi-Antwort, die nicht falsch ist, aber gar nichts besagt. Wesen, Qualität und so weiter: sie alle haben Ursachen, sind wohl auch irgendwie Ursachen. Aber es gibt eine Kategorie – poiein oder „machen“ – die bedeutet haargenau „verursachen“. Auch wenn die Wörter nicht verwandt sind. Zum Beispiel hat Sophia Panteliadou das grüne Buch gemacht,das auf dem Tisch liegt. Sie hat es gemacht, sie ist die Macherin – griechisch poietes. Die Poetin, die Dichterin, ist ein Sonderfall einer solchen Macherin – und hat daher ihre Bezeichnung. Aber es bedarf einer lautstarken Auseinandersetzung, um die Zusammengehörigkeit dieser Wörter einsichtig zu machen.

 

Zur vorigen Frage, zu den Sachen als Ursachen, verweist Karl Bruckschwaiger auf ein anderes auf dem Tisch liegendes Buch: „Wir sind nie modern gewesen“ von Bruno Latour und sagt dazu: der hat das mit den Sachen als Ursachen kapiert. Und das stimmt.



Darum ist es gut, daß die Metaphysik-Lektüre auf dem Hohen Markt stattgefunden hat, denn da liegen hie und da Bücher herum. 

 

Zum Glück bestehen die Bücher XIII und XIV doch nicht nur aus Wortgefechten zwischen platonischen und pythagoreischen Platonikern – das heißt zwischen Schulkollegen, -freunden und -feinden.

 

Aristoteles selber vollzieht einen Schwenk in Richtung Platon mit der Frage, „wie sich die Elemente und Prinzipien zum Guten und Schönen verhalten“. (1091a 31)

 

Wie schon öfter in der Metaphysik stellt er die beiden Eigenschaftswörter direkt nebeneiander und betont so ihre Zusammengehörigkeit, die ja schon in der sprichwörtlichen kalokagathia einen Flügel zum Wahrnehmbaren aufgetan hatte.

 

Aristoteles stellt die Frage, welche der beiden „höchsten“ platonischen Ideen – das Eine oder das Gute – vorrangig für die Konzeption einer obersten Ursache einzusetzen sind. Und er entscheidet sich für das Gute, weil mit der Dominanz des Einen die Selbständigkeit der gewöhnlichen, der natürlichen Wesen gefährdet sei (siehe oben).

 

In 1091b 16ff. wird das Erste, Ewige, Selbstgenügsame mit dem Guten identifiziert, das hier sogar eine ethische Färbung zu bekommen scheint, da „es sich gut verhält“ (1091b 19). Aber vielleicht ist damit doch nicht nur ein moralisches Verhalten gemeint, sondern einfach : „da es sich wohl befindet“.

 

Und dabei ist immer auch mitzudenken: „und weil es schön ist“.

 

Diese zweite oder Mit-Bedeutung des Schönen war es wohl, die mir im Laufe des dreizehnjährigen, langwierigen, oftmals schwierigen und manchmal ärgerlichen Lektüre-Seminars einen Antrieb, einen Impuls, manchmal nur eine Hoffnung geliefert hat – eben so ein Bewegtwerden, ein Lieben-Wollen, das Aristoteles für die Objektseite als ein „Gleichsam-Geliebt-Werden“ (1072b 4) benennt. Und da ich kein typischer Denker bin, sondern eher ein Seher, hat mich auch das Sehen der amerikanischen Künstlerin namens Tanner Mayes (*1989) vorangetrieben und gelegentlich habe ich fotografische Abbildungen davon ins Protokoll hineingeschwindelt.

 

Auszüge aus dem anderen Protokoll in das eine.

 

 

Walter Seitter

Sonntag, 28. Januar 2024

In der Metaphysik lesen (1093b 7 - 1093b 28)

24. Jänner 2024


 

Die beiden Bücher XIII und XIV machen einen eher schwachen Eindruck, da sie nach dem Buch XII, welches die aristotelische Theologie einigermaßen deutlich umreißt, kein eigenes Thema aufweisen zu können scheinen. 

 

Sie gehen von der Mathematik aus, die in der aristotelischen Wissenschaftsklassifikation einen bestimmten Platz einnimmt: als zweitgenannte theoretische oder kontemplative Wissenschaft nach der Physik und vor der Theologie. In der Metaphysik widmet sich das Buch X mit den Begriffen des Einen und des Vielen und der Zahl grundlegenden Betrachtungen zur Mathematik, die es insgesamt mit einem der Akzidenzien, mit der Quantität, zu tun hat, was er auch in Buch XIV wieder in Erinnerung ruft (1089b 34f.).

 

Folgt man Aristoteles, so fanden vor sehr langer Zeit in Ägypten Menschen die Muße, um sich wissenschaftlicher Tätigkeit, etwa der Mathematik, hinzugeben (siehe I, 982b, 23ff.).

 

Zwei Jahrhunderte vor Aristoteles gründete Pythagoras von Samos (570-510) in Unteritalien eine religiös gestimmte Philosophenschule, in der die Mathematik und die Musik intensiv gepflegt worden sind. Ihre Lehre prägte auch die Akademie von Platon (428-372) sehr stark, in der Aristoteles zwanzig Jahre als Schüler, vielleicht auch schon als Lehrer gelebt hat. 

 

In den jetzt gelesenen Büchern der Metaphysik geht Aristoteles von der Mathematik aus und arbeitet sich kritisch bis polemisch damit ab, die Bedeutung der Zahlen und der geometrischen Figuren von sachlich nicht haltbaren Aufladungen zu befreien. Er möchte ihnen „keine andere Natur zuschreiben, sondern nur schauen, ob sie sind oder nicht sind, und wenn sie sie sind, in welcher Weise sie sind“ (XIII, 1076a 23ff.)

 

Aristoteles insistiert darauf, daß Zahlen nicht Ursachen, nicht Prinzipien, nicht Wesen, nicht Ideen sind. Sie seien nur Zahlen - also Mittel zur Zählung von Dingen, zu deren Existenz und Essenz sie wenig bis nichts beitragen. 

 

Die Hartnäckigkeit, die polemische Intensität, mit der die Zahlen auf ihre Seinsweise zurechtgestutzt werden, verfolgt wohl nicht das Anliegen, eine „Reine Zahlenlehre“ zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, von der Mathematik aus mannigfache Phänomene in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie sie sich von da aus darstellen. Also die Mathematik wird sozusagen als Observatorium benützt, mit dem fragwürdige philosophische Theorien kritisiert werden. Aber auch neue Schlaglichter auf schon bekannte Phänomene geworfen werden - angeblich bekannte Phänomene: denn die bekannten Phänomene rutschen nur allzu leicht ins Ungefähre und Unbekannte.

 

Die mathematischen Größen können sich in den wahrnehmbaren Dingen nur potenziell befinden; außerhalb ihrer, also selbständig, können sie gar nicht existieren. 

 

In einer entgegengesetzten Richtung betont Aristoteles, daß „die mathematischen Wissenschaften sehr wohl vom Schönen oder Guten sprechen, und daß sie das in höchstem Maße deutlich machen; auch wenn sie sie nicht benennen, so zeigen sie doch ihre Werke und Proportionen auf. Die hauptsächlichsten Arten des Schönen sind Ordnung, Gleichmaß und das Begrenzte. Diese aber werden am besten von den mathematischen Wissenschaften gezeigt. Und weil diese (nämlich die Ordnung und das Begrenzte) Ursachen vieler Dinge zu sein scheinen, so ist es offensichtlich, daß die mathematischen Wissenschaften auch von einer solchen Ursache sprechen, die als das Schöne gewissermaßen Ursache ist. Noch deutlicher werden wir darüber noch an anderen Stellen sprechen.“ (1078a 34ff.)

 

Mein Grazer Übersetzer bemerkt dazu, daß daß dieses Versprechen von Aristoteles nicht eingelöst worden sei. 

 

Und man kann auch die Vermutung anfügen, daß diese Stelle ein ernst zu nehmendes „Symptom“ sein könnte - dafür, daß der Text unvollständig überliefert oder gar unvollständig - nämlich nicht - fertiggestellt worden ist, etwa weil der Autor durch einen schwerwiegenden Zwischenfall daran gehindert worden ist. 

 

Daß er gerade an dieser Stelle unterbrochen, abgebrochen worden ist, muß tatsächlich als schwerer Unfall betrachtet werden - denn die Stelle ist vielversprechend. In höchstem Maße aufzeigend, am besten zeigend - das sind gerade die erkenntnispolitischen Glücksfälle, die hier im Text selber genannt werden. 

 

Daher ist es sehr wohl angebracht, hier einen „Fall“ von „Verstümmelung“ anzunehmen - jenem Unglück, das von Aristoteles in sein Begriffslexikon (im Buch V) aufgenommen worden sind, wo angeblich nur „Grund- oder Hauptbegriffe“ Platz finden können. Wir müssen unser Verständnis von „Grund- oder Hauptbegriffen“ revidieren, wenn wir dem aristotelischen Denken näher kommen wollen, als es die bisherigen Aristoteles-Klassiker zustande gebracht haben. Aristoteles versteht unter Verstümmlung einen Vorgang bzw. einen Zustand, der knapp vor der Zerstörung oder Vernichtung liegt - und das Kriterium für die Unterscheidung liegt im Begriff des Wesens: wenn das gerade noch bewahrt ist (was sich an der Funktionsfähigkeit bemißt), dann kann man von Verstümmelung, dann muß man nicht von Vernichtung sprechen.[1]

 

Diese Stelle liegt gewissermaßen quer, ja konträr zu meiner obigen Einschätzung, daß Aristoteles hier die Mathematik nur zurechtstutzen oder gar reduzieren will. Die Mathematik will er gar nicht zurechtstutzen - nur irrige „philosophische“ Deutungen will er korrigieren.

 

Es folgt eine Auseinandersetzung mit der platonischen Ideenlehre - oder mit einer Auffassung davon, welche dem Begriffsallgemeinen, das von Sokrates erstmalig präzis als das „was“ eines Dinges, einer Eigenschaft oder eines Vorganges definiert worden ist, ein selbständiges Existieren zuspricht. 

 

Und mit der Auffassung, daß innere Formen (die auch Aristoteles annimmt), etwas entstehen lassen. Dazu brauche es auch ein „Etwas, das bewegt hat“ (1080a 4).

 

Sodann eine langwierige Auseinandersetzung mit der These, daß die Zahlen selbständig existieren und agieren - wobei Aristoteles hier auch ein Element der sogenannten ungeschriebenen Lehre Platons kritisiert: „das Eine und die unbestimmte Zwei“. Was wiederum dazu führt, daß er pythagoreische und platonische Ansichten miteinander zusammenbringt (worüber er als langjähriger Platon-Schüler und wohl auch -Assistent) bestens informiert gewesen sein muß. Wiederum verteidigt er die Lehre des Sokrates, die ja Platons Lehre überhaupt erst „bewegt“ hat.

 

Auch der Wahrnehmungsvorgang wird als Beispiel angeführt: „In akzidenzieller Weise sieht der Gesichtssinn die allgemeine Farbe, weil eben ‚diese Farbe‘, die er gerade sieht, Farbe ist.“ (1087 a 19f.)

 

Eine philosophiehistorische Ursache für das Aufkommen der falschen Hypostasierungen, wie sie in der sogenannten Ideenlehre sich durchgesetzt haben, sieht er in einer von Parmenides vorgeschlagenen Vereinheitlichung der Realität - wogegen er seine pluralistische Ontologie zur Geltung bringt: „das Seiende ist teils ein Das, teils ein Qualitatives, teils ein Quantitatives, teils ein Örtliches.“ (1089a 14).

 

Die zahlenartigen angeblich platonischen Prinzipien sind nicht geeignet, Ursache dafür zu sein, „daß es zweierlei Weiß gibt oder viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren - sonst wären nämlich auch sie Zahlen und Einsen.“ ( 1089a  37f.).  

 

Die Flüssigkeiten gehören für Aristoteles zu den Körpern, weil eines der vier Elemente das Wasser ist - neben der Erde, der Luft und dem Feuer. Unsere Gewohnheit, nur Festkörper für Körper zu halten, hat sich seit der Neuzeit herausgebildet. Michel Serres hat in dem genannten Buch über Lukrez den beweglicheren Körpern einen gewissen Vorrang eingeräumt - weil sie den mikrophysikalischen Vorgängen näherbleiben.

 

Selbst wenn es die Zahlen nicht gäbe, „gäbe es die Seele und die wahrnehmbaren Körper“ (1090b 1). Die Seele ist eine bestimmte Art von Formursache, die bestimmte Körper auszeichnet - ihnen aber nicht die Körperlichkeit nimmt (eher im Gegenteil!).

 

Empfindungen sind einerseits Bestimmungen des Wahrnehmenden, andererseits Eigenschaften des Wahrgenommenen - der Körper. „Das Weiße, das Süße, das Warme“. (1092b 16). Eine zufällige (?) Zusammenstellung von beinahe intimen Qualitäten, die keine Zahlen sind. 

 

Mit diesen Beispielen „rettet“ Aristoteles das Physische als solches, das aufseiten der sogenannten Subjekte und auch der Objekte besteht.

 

Noch intimer die sprachlichen Laute, etwa die Konsonanten, die an verschiedenen Stellen im Mund gebildet werden. Wenn mehrere Konsonanten unmittelbar zusammentreffen und somit eine Konsonanz bilden, werden sie entweder zu einem Buchstaben zusammengeschrieben - wie etwa X - oder die Schrift schreibt sie einzeln - wie etwa GR. Phonetik und Graphik bilden die Physik der Sprache. (1093a 21ff.) Ein angrenzender Phänomenbereich ist die Musik.

 

Diese „Mikrophysik“ geht direkt in eine Physik der Kultur über, in die Ästhetik, wie sie Aristoteles auch der Mathematik zugeordnet hat.

 

Und die verweist direkt auf die „Physik“ jenes Wesens, die nach Aristoteles eine „andere Physik“ ist:

 

eine des „Ersten, Ewigen, des Selbstgenügsamsten, des Ersten, das das Heil ist und sich selbst genügt, und dem das Gute zukommt. Es muß unvergänglich und sich selbst genügend sein - weil es sich gut verhält“ (1091b 16ff.).

 

Die von den mathematischen Wissenschaften aufgewiesenen Schönheitswirkungen verbinden die Qualitäten des Physischen mit den Qualitäten des ersten Prinzips, welche sowohl ethische wie ontische sind.

 

Eine Figur in einer Konstellation, die die Theographie des Buches X vollendet - und doch nicht vollendet - hat.

 

Die Tatsache, daß Aristoteles zuletzt in Anlehnung an die „mathematischen Wissenschaften“ die Wirkungen und Proportionen des Schönen und Guten herbeiruft, um die Positionierung des „Schönen als Ursache“ plausibel zu machen, wenn auch nicht vollkommen, erlaubt es mir, ein nicht ganz vollkommenes Bild von so einer Ursache hier einzuschalten.

 

 


 

Walter Seitter



[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 210ff.

 

Sonntag, 21. Januar 2024

In der Metaphysik lesen (1092b 27 – 1093b 6)

17. Jänner 2024

 

 

Der letzte Satz des zuvor gelesenen Abschnitts umreißt eine Hauptrichtung der Bücher XIII und XIV:

 

„Die Zahl nun . . . . ist weder die bewirkende Ursache noch Stoff, noch Begriff und Form der Dinge. Die Zahl ist aber auch nicht Ursache im Sinne des Weswegen.“ 1092b 25f.

 

Das Weswegen ist etwas, wegen dessen man etwas tut: Ziel- oder Zweckursache. Also etwas, was „gut“ ist.

 

Heute früh beim Einkaufen belief sich meine Rechnung auf 7.77 € - und ich sagte: so viele Sieben! Die Kassierin zu mir: die Sieben bringen Glück! Sie meinte damit die Zahl selber und ich akzeptierte diese Aussage – mehr oder weniger im Sinn eines Aberglaubens.

 

Die konkrete Zahl war mir nicht unympathisch, weil sie einstellig war, meine Zahlschuld also relativ gering. Was wiederum voraussetzt, daß ein Euro für mich, wie wohl für jedermann, eine Art Gut ist - und die Zahl, die man sich dazu wünscht besser eine hohe ist, sofern sie auf der Habenseite verbucht wird.

 

Aristoteles verknüpft mit den Zahlen ein anderes konkretes Beispiel, eines aus dem Gebiet der Heilmittel oder Getränke, und ein komplizierteres, nämlich das Mischungsverhältnis zwischen Honig und Wasser. Ein zahlenmäßig definiertes Mischungsverhältnis kann nur dann als gut oder gesundheitsfördernd betrachtet werden, wenn die Mischungsstoffe Honig und Wasser berücksichtigt werden. Das Mischungsverhältnis drei zu eins an sich besagt nichts über die Qualität einer Mischung.

 

Aristoteles greift wieder auf die Lehre des pythagoreischen Philosophen Eurytos zurück, der bestimmte Wesen mit bestimmten Zahlen verknüpfte: Zahlen als Formursachen. Damit würden bestimmte Konstellationen, in denen die Siebenzahl eine Rolle spielt, ein und demselben Wesen angehören: etwa die sieben Vokale, die sieben Helden oder die sieben Tore von Theben, die sieben Sterne der Plejaden einem Wesen angehören. Obwohl doch offensichtlich ist, daß sie sehr unterschiedlichen Wesens sind. Die einzige Gattungsform, in die sie allesamt eingerückt werden könnten, wäre die Gattung der Körper – aber in die gehört ohnehin alles, was der physischen Welt angehört.

 

Wenn man das aristotelische Postulat, der Leser seiner Schrift sollte ein Aktiv-Denkender, ein Suchend-Denkender sein, einer, der den Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen, ernst nimmt, dann könnte man in diesem 21. Jahrhundert nach Christus auch daran denken, daß die moderne Naturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich sehr strikte Beziehungen zwischen bestimmten Körperwesen und bestimmten Zahlen festlegt.

 

Es ist das Periodensystem der chemischen Elemente, welche die Grundstoffe der chemischen Reaktionen sind. Alle Atome eines Elements (z.B. Wasserstoff, Titan, Selen, Blei, Sauerstoff, Radon und so weiter, bis jetzt sind 118 nachgewiesen) haben gleich viele Protonen (also kleinste Teilkörperchen) in ihrem Atomkern (einem schon etwas größeren Teilkörperchen). Diese „Ordnungszahl“ nimmt also die Stelle einer Formursache ein – aber auch nicht als Zahl an sich, sondern als Anzahl bestimmter Teilchen innerhalb eines größeren Teilchens. Diese Elemente sind natürlich etwas anderes als die vier oder fünf Elemente der antiken Physiker (die damit nicht abgeschafft sind, wie man etwa aus der Küche oder von Überschwemmungen weiß). Aber sie teilen einige Eigenschaften mit ihnen – es gibt darunter Feststoffe und Flüssigkeiten und Gase. Einige von ihnen sind künstlicher Natur.  

 

Obwohl in den Büchern XIII und XIV der kritische, ja polemische Ton vorherrscht, würde ich meinen, daß der Hauptduktus ein positiver, ein affirmativer ist: es geht um eine "Apologie der Physik“ - für ihn die erste Wissenschaft (in der kurzen Reihe der theoretischen Wissenschaften): nämlich die Wissenschaft von den wahrnehmbaren, veränderlichen und vergänglichen Körpern (und deren Akzidenzien).

 

Positiv nenne ich diese Ausführungen auch deswegen, weil sie mehr zufällig als systematisch, eher überraschend, bestimmte Gegenstände der Physik begrifflich umreißen: "zweierlei Weiß" (was er genau damit meint, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich daran, daß der weiße Stoff par excellence, der Schnee in einer sonnigen Winterlandschaft zwei Weiß-Nuancen annimmt: das sonnige und das bläuliche Weiß), „oder viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren“ (wenn man Aristoteles-Leser ist, muß man nicht Aristoteliker sein; daher kann Sophia Panteliadou sagen, sie halte die Flüssigkeiten nicht für Körper) (1089b 1); „die Seele und die wahrnehmbaren Körper . . . . die Erscheinungen“ (1090b 19) - wieso die Seele, über die es ja ein eigenes Buch gibt? Weil die Seelen nur in Körpern vorkommen, für die sie die Rolle der Formursachen übernehmen, so daß diese Körper beseelt sind und bessere Körper. Dann „das Weiße, das Süße und das Warme“ (1092b 16).

 

Dann muß noch erwähnt werden, daß Aristoteles sowohl seine theoretischen Widersacher wie auch die gemeinsamen „Gegenstände“ quasi linguistisch charakterisiert: seine Widersacher durch ihren „großen Logos“, ihre großen Worte, ihre Großsprecherei, ja ihre starken Sprüche. Was er damit meint, sagt er äußerst erfinderisch: die Gegenstände, nämlich die Elemente, und da unterscheidet er "das große und das kleine“, „schreien“ (im Englischen heißt cry sowohl schreien wie auch weinen), weil sie von der Großsprecherei der Zahlenfetischisten zwischen den Zahlen hin her gezerrt und gerissen werden. Vergewaltigung der Natur durch Theorie.

 

Die pythagoreisch-platonische Großsprecherei der Schulkollegen des Aristoteles und seine Polemik gegen sie - das ist ein aus nächster Nähe geschilderter erkenntnispolitischer Streit innerhalb einer Gruppe von Kollegen und womöglich von Freunden, wo sich Weichenstellungen abzeichnen, die in späteren Zeiten durchschlagend werden.  

 

Für den Moment würde ich hier davon sprechen, daß solche, die sich für Philosophen halten, sich über solche, die nur Phänomene benennen und beschreiben, erheben und damit auch über die Phänomene. Und als deren Anwalt erfindet Aristoteles den Anschein, als würden jene, auch die kleinen, schreien und weinen.  

 

 

Da wird er plötzlich zum Dichter in Sachen der Erkenntnispolitik - einer heute sehr aktuellen Angelegenheit.

 

 

 

 

Aristoteles ergänzt seine gelegentlich abstrusen Exemplifikationen mit sehr naheliegenden Hinweisen auf das Feld, in dem er sich gerade aktuell und aktiv aufhält: als Schreibender, der mit Buchstaben Laute aufs Papier oder Pergament hinsetzt und zwar Laute, die von den Menschen im Mund, und zwar an drei Stellen erzeugt werden.

 

Dabei interessiert er sich jetzt nur für die Konsonanten, die sich auch miteinander verbinden können, wobei manche dieser Verbindungen mit einer Konsonanz geschrieben werden, etwa mit X, andere mit zwei Konsonanten, etwa GR.

 

Aristoteles warnt davor, diese halb natürlichen, halb künstlichen Tatbestände mit allzuviel Spekulation aufzuladen. Aber er weist auf sie hin: sie gehören zu den intimsten physischen Tatsachen. Eher Mikrophysik als Metaphysik.

 

Walter Seitter

Freitag, 8. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 29 - 1092b 27)

8. Dezember 2023

 

In diesem Jahr ist ein Buch, das Michel Foucault im Jahr 1966 geschrieben hat, zum ersten Mal publiziert worden und seine Existenz ist überhaupt zum ersten Mal bekannt geworden: Le discours philosophique (Paris 2023).

 

Er hat im Jahr 1966 das fertige Manuskript schlicht und einfach in eine Schublade gesteckt und niemandem etwas davon verraten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 dürfte nur er davon gewußt haben.

 

Erst mit der Bearbeitung des Nachlasses ist jetzt das Buch Der philosophische Diskurs ans Licht der Welt gekommen.

 

Inhaltlich gesehen ist es das erste der bisher bekannten Bücher Foucaults, das explizit die Philosophie - als Tätigkeitsform - artikuliert.

 

Nach dieser kleinen Sonderoperation ist er wieder zu seiner geläufigen Themenlinie zurückgekehrt: zu den Humanwissenschaften der europäischen Neuzeit mitsamt den zugrundeliegenden oder folgerichtigen Humantechniken der Moderne. Deren Problematik hat ihn Ende der Siebzigerjahre thematisch um zweitausend Jahre zurückgeworfen: in die klassische und späte und frühchristliche Antike, wo er ansatzweise Antworten auf seine ethischen Fragestellungen fand.

 

Eine gewisse und sehr weit entfernte Parallele zu unserer Metaphysik-Lektüre könnte man darin sehen, daß auch der aristotelischen Metaphysik eine lange Latenzperiode beschieden war, die vom Tod des Aristoteles bis zur zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus gedauert hat - also drei Jahrhunderte. Wo und wie in dieser Zeit die aristotelischen Manuskripte oder dergleichen existiert haben, scheint unbekannt zu sein. Es scheint aber festzustehen, daß Andronikos von Rhodos, dessen Lebensdaten ungewiss sind, die Zusammenstellung und Edition der uns heute bekannten Schriften des Aristoteles besorgt hat.

 

Legenden wie diejenigen, daß da „die Araber“ schon tätig gewesen seien, sind auszuscheiden.

 

Zur Frage, was in der langen Zwischenzeit vom vierten bis zum ersten Jahrhundert ausschlaggebend dafür gewesen sein könnte, daß die Vorlesungen, die der ja bekannt gebliebene Aristoteles zu Lebzeiten gehalten hatte, so spät in Buchform gebracht worden sind, liefert Foucault ausgerechnet in besagtem „neuem“ Buch, einen Hinweis. 

 

Er spricht davon, daß es nach dem Aufbruch der griechischen Kultur seit dem 8. Jahrhundert eine „zweite Mutation“ in der Organisation des Wissens gegeben habe, die eng mit der Anfang des 3. Jahrhunderts errichteten Bibliothek von Alexandria zusammenhänge, wo „sich nicht die griechische Diskurs- und Archivmodalität“ behauptet habe, vielmehr sei mit der Konfrontation der griechischen, ägyptischen, hebräischen, bald auch römischen Kultur ein neuer Diskurs- und Archivtyp entstanden.“ (231). Das Neue liege darin, daß verschiedene Sprachen, Texte, Schriften, Manuskripte, Notierung- und Registrierungssysteme versammelt, verglichen, abgeschrieben und übersetzt worden seien; es wurden Massen von Diskursen wie globale Kulturtatsachen mobilisiert und reorganisiert; man könne das „Synkretismus“ nennen - es handelt sich um eine Organisationsform, die für das Abendland hinfort maßgeblich sein wird und - bekanntlich - auch ganz neue Techniken hervorrufen wird.

 

Sowohl die spätantike Aristoteles-Ausgabe wie auch die gesamte nachfolgende Lawine von Kommentaren, Übersetzungen und so weiter gehören dazu. Zum Beispiel der hauptsächlich kosmologische Synkretismus des Hermann von Kärnten, für den Aristoteles nur eine ferne Autorität gewesen ist, in Bezug auf die Grundbegriffe aber eine wichtige.

 

 

Unsere hiesige Aristoteles-Lektüre steht unvermeidlicherweise auch in dieser alexandrinischen Tradition. Da wir eine philosophische, das heißt auch sachbezogene Lektüre anstreben, wäre es sinnvoll gewesen, die Metaphysik-Lektüre durch eine partielle, darauf zugeschnittene Physik-Lektüre zu untermauern und zu ergänzen.

 

Mit der Vorschaltung der Poetik ist eine ganz anders ausgerichtete Wissenschaft und auch Artikulierungsweise dazugenommen worden.

 

Insgesamt eine andere Lesekonstellation, die ich damit ausgebaut habe, daß ich von 2021 bis 2023 zwei andere Parallellektüren vorgenommen und protokolliert habe.

 

 

Michel Serres: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce (Paris 1978)

 

Francis Ponge: Le soleil/Die Sonne (Berlin 2020)

 

 

Das erstgenannte Buch liefert eine philosophisch ambitionierte Physikgeschichte, welche eine in der Antike parallel zur aristotelischen Physik ausgearbeitete, nämlich die epikureisch-atomistische Physik in der Form des Poems De rerum natura, vorstellt. Die Konstellierung zweier unterschiedlicher Physiken wirft natürlich die Frage nach der Wahl, nach der Entscheidung zwischen wissenschaftlichen Paradigmen auf. Michel Serres überkreuzt diese Frage mit der andersgearteten Frage nach der Wahl zwischen ethischen, politischen Ausrichtungen innerhalb der Physik. Denn auch die theoretischen Wissenschaften sind Praktiken. 

 

Das zweitgenannte Buch stellt ein lang auseinander gezogenes Poem dar, dessen Hauptobjekt, die Sonne, sehr geeignet ist, uns einzuleuchten, aber auch Fragen zu stellen.

 

Dazu kam dann noch die Lektüre der mittelalterlichen Kosmologie De essentiis von Hermann von Kärnten.

 

Die Ordnung der Lektüren von 2007 bis 2024 kann also mit dieser winzigen, dennoch „alexandrinischen“ Autorenliste namhaft gemacht werden:

 

 

Aristoteles    Lukrez       Hermann    Ponge       Serres

 

Protokollschreiber:  

 

Seitter       Bruckschwaiger

 

 

*

 

 

In der Erörterung der Frage, welche Seinsweisen den Zahlen zugeschrieben werden könne und welche Entstehungen mit ihnen zu verbinden seien, setzt Aristoteles Begriffe wie „Prinzip“, „Element“, „Mischung“, „Zusammensetzung“, „Lage“ ein.

 

Und „aus etwas sein“. Dieser Begriff - er sieht nicht aus wie ein ordentlicher Begriff - ist schon im Buch V, dem sogenannten Begriffslexikon der Metaphysik, besprochen worden:

 

aus einem Material sein - zu allererst aus Schmelzbarem; von einem Vorgang angeregt worden sein; teilweise auch von Vater und Mutter abstammen; aus der Erde hervorgegangen sein; sagt man: die Nacht entsteht aus dem Tag, so bedeutet das nur: nach dem Tag.

 

Hier hingegen nur eine Distinktion: aus etwas sein, das in ihm enthalten ist - oder nicht.

 

Davon ausgehend die Frage, wie die Zahl aus etwas sein kann. Wie aus einem Samen, aus einem Unzerlegbaren, aus einem Element wie aus einem Gegenteil - einem erhalten bleibenden oder aus einem zugrundegehenden? Solche Fragen werden weitergespielt, ohne daß man zu einer Schlussfolgerung kommt.

 

Dann die umgekehrte Fragestellung: wie die Zahlen Ursachen der Wesen und des Seins sind - eher wie die Grenzen oder eher wie die von dem Pythagoreer Eurytos jedem Wesen zugeordneten Zahlen?

 

Und eingeschoben eine winzige Bemerkung in Frageform: „Wie aber sollen die Empfindungen Zahlen sein: das Weiße, das Süße und das Warme?“ (1092b 16)

 

Die drei Eigenschaften zeigen, was mit den Empfindungen gemeint ist: wahrnehmbare Eigenschaften von Körpern. Nur Akzidenzien. Akzidenzien von Wesen, die Körper sind, vergängliche, veränderbare und wahrnehmbare. Auch ihre Wahrnehmbarkeit ist vergänglich und veränderbar. Und die Wissenschaft von all dem ist die Physik. Die aristotelische und wohl nicht nur die aristotelische. Die Physik ist eine Naturwissenschaft, deren Reichweite auch ein bißchen über die Natur hinausgeht, weil die kulturellen Produktionen sich an die Natur anlehnen. Beispiele: ein weißes Blatt Papier, ein süßer Kaffee, eine warme Heizung. 

 

Dieser schlichte Fragesatz tut nichts Geringeres als den Duktus dieser beiden Bücher XIII und XIV, der ungeschickt, hin und her schwankend, langweilig und kaum lesbar ist, resümieren.

 

Diese beiden Bücher, über die man sich fragen kann, warum sie da nach der Theologie von Buch XII, angehängt sind - ich weiß auch nicht warum.

 

Aber als aktiver Aristoteles-Leser (den er einen denkenden) nennen würde, sage ich: hier liegt eine Apologie der Physik vor, eine Apologie, die die Wissenschaft von den Körpern, von den gewöhnlichen und den weniger gewöhnlichen, verteidigt. In diesem Fall gegen eine Art Metamathematik, die die Körper wegreden möchte und sie durch etwas angeblich Besseres, Reineres, Höheres erklären, ersetzen will.

 

So eine Apologie könnte auch unter das antike Motto sozein ta phainomena - die Erscheinungen retten! gestellt werden. Hier ist sie so ungeschickt formuliert, daß es einen aktiven Leser braucht, der sie ins Deutsche übersetzt.

 

Aristoteles weist jede enge Verbindung von bestimmten Zahlen mit Wesensbestimmungen zurück - sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. In den Proportionen verlieren die Zahlen ihren bloßen Zahlencharakter - es gehe um Proportionen von Körpern oder dergleichen.

 

 

Aristoteles insistiert darauf, daß man die Physik nicht auf Mathematik reduzieren kann. Soweit die Hauptstoßrichtung seiner Zahlenerörterungen - mit der er auch in der von Michel Serres berührten Diskussion eine bestimmte Position einnimmt. 

 

Die Zahl kann keine der vier Ursachen sein: weder Wirkursache (hier genauer Urheber durch „gemacht haben“ - wie „derjenige, der es getan hat“ !) noch Stoff noch Begriff und Form der Dinge. Und auch nicht - oder erst recht nicht! - als Weswegen.

 

Mit dieser strikt negierten formalistisch-syntaktischen Ursachangabe leitet Aristoteles über zu einer Aporienvermutung - die ein „gut“ (ein adverbiales!) doch wieder ins Gestrüpp von Zahlenspekulationen wirft.

 

Man könnte allerdings unschlüssig sein, was das „gut“ eigentlich sei, das von den Zahlen dadurch herauskommen soll, daß die Mischung in einer Zahl stattfinde, entweder in einer gut proportionierten oder in einer ungeraden . . . 

 

 

Walter Seitter