Nachdem Aristoteles am Anfang von Buch III
eindringlich empfohlen ja eingeschärft hat, dass die „gesuchte Wissenschaft“ –
dies die erste bzw. nullte Bezeichnung für die Untersuchungsrichtung des
Gesamtwerks (an der doch erkennbar festgehalten wird) – dass also die gesuchte
Wissenschaft in Angriff zu nehmen ist, indem man ihre bereits vorliegenden bzw.
überlieferten „Aporien“ (Unwegsamkeiten, Schwierigkeiten) sich vornimmt und
durcharbeitet. Der Ausdruck „durcharbeiten“ scheint geeignet, um diese Art von
„Arbeit“ näher zu bezeichnen. Ich übernehme ihn von Sigmund Freud, der damit
eine entscheidende Phase in der „Arbeit“ des Kranken, des Analysierten meint:
„Dieses Durcharbeiten der Widerstände mag in der Praxis zu einer beschwerlichen
Aufgabe für den Analysierten ... werden.“
Wie wir gesehen haben, haben auch die von Aristoteles
gemeinten „Aporien“ etwas von Blockaden, in welche sogar der Philosophierende
selber verstrickt ist – auch wenn die Aporien in gewissem Sinn viel „objektiver“
ausgerichtet sind.
Die aristotelischen Aporien werden nun der Reihe nach
genannt und es zeigt sich, dass sie die Form von sehr theoretischen
Entweder-Oder-Fragen haben. Diese Fragen werden zunächst aneinander gereiht,
ohne behandelt oder beantwortet zu werden. Sie werden aber nicht irgendwie
aneinander gereiht, sondern logisch aneinander gekettet, nämlich so, dass die
jeweils nächste Frage eine bestimmte Antwort auf die vorhergehende voraussetzt.
So jedenfalls die ersten vier Fragen, womit die ersten drei Fragen also doch
schon beantwortet werden – aber vielleicht nur „spontan“ und hypothetisch.
Die Aneinanderreihung der ersten vier „Aporien“ folgt
also dem Schema:
1 oder 2? – 2.1 oder 2.2? – 2.1.1 oder 2.1.2? –
2.1.2.1 oder 2.1.2.2?
Sachlich geht es erstens für die Betrachtung der
Ursachen um Einzahl oder Mehrzahl der zuständigen Wissenschaft(en). Zweitens um
ontische oder logische Prinzipien. Drittens neuerlich - aber mit
spezifizierter Thematik - um Einzahl oder Mehrzahl der zuständigen Wissenschaft(en).
Und viertens um egalitäre oder hierarchische Ordnung der Wissenschaften, wobei
als Hierarchisierungskriterium die „Weisheit“ genannt wird, welche im Buch als
erste Bezeichnung für die gesuchte Wissenschaft aufgetaucht war. Würde die
vierte Frage in Richtung 2 beantwortet, käme eine hierarchische Stufung der
Wissenschaften zustande: Wissenschaften, die zur Weisheit gehören, und andere.
Das wäre die einfachere Form der Hierarchisierung, die impliziert, dass die
Weisheit nicht so sehr eine Wissenschaft ist als vielmehr eine Gruppe von
Wissenschaften. Eine innere Pluralisierung, die eigentlich der bisherigen Suche
nach „der gesuchten Wissenschaft“ widerspricht.
Die nachfolgenden Fragen sind nicht so eng an die
bisherigen geknüpft, aber vielleicht setzen sie doch die Fragerichtung von
Aporie 4 fort: gibt es nur die wahrnehmbaren Wesen oder auch andere? Dass es
die ersteren gibt, versteht sich von selbst, denn die gibt es für alle und
allezeit und überall, wie wir sagen würden. Während die zweiteren, die „anderen“
wohl doch nur spezieller zugänglich und erfassbar, nämlich nicht-sinnlich,
erscheinen. Aristoteles entscheidet sich anscheinend rasch dafür, dass es auch
die anderen gibt, und bezieht seine nächste Frage anscheinend auf die anderen,
aber doch sehr unklar, denn er bezieht sich auf solche (Theoretiker), welche
den Formen und den Mathematika (vermutlich zwei Arten von Nicht-Sinnlichen)
einen Platz anweisen, der zwischen den Sinnlichen und den, na was, wohl doch
den Nicht-Sinnlichen liegt. Das ist doch reichlich konfus, eigentlich
kontradiktorisch, jedenfalls aporetisch. Eine echte Aporie und nicht bloß eine
Frage, eine aporetische These, die irgendwelchen Leuten unterschoben wird.
Insofern haben wir es hier mit einer Fortsetzung von Buch I zu tun, aber eine
Fortsetzung, die nicht formell als Theoriehistorie auftritt.
Walter Seitter
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