Die Aporien Nr. 12 bis 15
bilden die letzten in der Aufzählung. Im Schlußsatz wird ähnlich wie am Anfang
von Buch III das Wort „Aporie“ in die eher „positiven“ Verben „diaporein“ und
„euporein“ gewendet – nämlich so, daß das Durcharbeiten der Aporien zur Bedingung
ihrer Lösung, ihrer Überwindung erklärt wird. Kein Ausweg ohne Nachvollzug der
„Inwege“, ohne Durchgang durch die Suchbewegungen, als welche sich die
„Unwegsamkeiten“ darstellen. Immerhin besteht das Wort „Aporie“ überwiegend, ja
fast ausschließlich aus „porie“ also Wegsamkeit. Zwar sind jene Wege
steckengeblieben, haben sich im Kreis gedreht oder sind sonstwie zu Sackgassen
geworden. Aber man muß sie nachgehen, nachvollziehen, um sie gangbarer zu
machen.
Auf diese Weise postuliert
Aristoteles ein sorgfältiges, intensives, arbeitsames Sich-Einlassen auf die
Tradition, auf die Vorgeschichte der von ihm „gesuchten“ Wissenschaft. Er
spielt nicht den ersten Anfang, den „ersten Philosophen“ im chronologischen
Sinn. Er weiß, daß er in der dritten oder vierten Generation philosophiert.
Meint allerdings auch, daß die vorausgehenden Generationen jedenfalls für diese
Wissenschaft den sicheren, den erfolgreichen Weg noch nicht gefunden haben.
Gleichzeitig nimmt er an, daß sie Wege zu dieser Wissenschaft versucht haben.
Im Buch I hat er selber
einen anderen Zugang zu dieser Tradition versucht. Einen, den wir „historisch“
im üblichen Sinn nennen würden: Nennen von Namen, kurzes Referieren der
Positionen, abwägendes, manchmal auch polemisches Kritisieren jener Thesen als
unzureichend. Obwohl er selber von Anfang an die „Wissenschaft“, die Suche nach
„Ursachen“, in den Vordergrund gestellt hat, hat er da auch „theologische“, wir
würden sagen „mythologische“ Antworten einbezogen. Außerdem hat er sogar die
gesuchte Wissenschaft selber als „Weisheit“ bezeichnet. Wohl wissend, daß
„Weisheit“ in seiner Kultur ein längst etablierter Begriff war, daß die
„Weisen“ eine angesehene soziale Position innehatten. Zu ihnen gehörten eher
Staatsmänner, Redner, Verfassungsgeber (im 20. Jahrhundert hat dann der
russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève den Titel des Weisen dem des
Philosophen vorgezogen). Allerdings die genaue Definition dieser Art von
Weisheit stand nicht fest. Aristoteles gibt ungefähr drei verschiedene
Definitionen der Weisheit – womit er bereits den Anspruch der Wissenschaft über
sie drüberstülpt.
Er möchte die Philosophie
mit dem sozialen Prestige der Weisheit ausstatten – und absichern. Und dazu
hatte er einigen Grund. Denn die Philosophen galten zu seiner Zeit, obwohl es
solche doch schon seit 200 Jahren gab, immer noch als unsichere Kantonisten,
verdächtige Neuerer, gefährliche Avantgardisten, aggressive Aporetiker. Bekanntester
und bekanntlich athenischer Fall: Sokrates.
Mit dem Buch III schlägt
Aristoteles einen anderen Zugang zur Tradition „seiner“ gesuchten Wissenschaft
ein: theoretische Reduzierung auf 15 Sachfragen, die aber nicht einfach als
Fragen oder Schwierigkeiten aufgelistet werden, sondern zu gescheiterten
Versuchen, Verrennungen, Sackgassen und Labyrinthen minidramatisiert werden.
Auflistung von Verrennungen. Und Aufforderung, eben diese Verrennungen wieder
und wieder nachzuvollziehen, zu modifizieren. Modern gesagt: sie produktiv zu
erneuern.
Also Fortsetzung des
Avantgardismus in der Bearbeitung bisher vorliegender Avantgarden.
In der Bearbeitung bisher
vorliegender philosophischer Avantgarden?
Oder in der Bearbeitung
bisher geleisteter – auch von ihm selber geleisteter – und heterogener
Erkenntnisse?
Abkehr von der Vorstellung,
alle Prinzipien, auch die heterogensten, könnten von einer Wissenschaft gesucht
und gefunden werden?
Hat das etwas mit
philosophischer Traditionslosigkeit zu tun, aus welcher in Österreich nach 1900
zum ersten Mal so etwas wie Philosophie entstand, neu entstand? Und in
verkleinertem Maßstab bei dem aus dem
zentraldeutschen kommunistisch
gewordenen
Jena
geflüchteten Max Bense (1910-1990) ab 1949 an der Technischen Hochschule Stuttgart?
Der neben seiner Nähe zu Mathematik, Naturwissenschaft und Technik auch
diejenige zur Kunstavantgarde pflegte (wie zum französischen Dichter Francis
Ponge (1899-1988) (der als Sechzigjähriger zur Gründung des Pariser
Avantgarde-Organs Tel Quel beigezogen wurde)).
Walter Seitter
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