Mit den sogenannten Aporien
hat Aristoteles die ihm vorausliegende „Tradition“ nicht historisch dargestellt
sondern strikt „sachlich“ schematisiert: in Einzelfragen zerlegt, die sich
allerdings wie Kettenglieder aneinanderfügen und bereits ganz und gar in seiner
eigenen Terminologie formuliert sind. Mit der Formulierung dieser Fragepunkte
liefert er also Diskussionspunkte, die auf seinen Schulbetrieb zugeschnitten
sind und die mit ihren ursprünglichen Kontexten vielleicht nicht mehr allzu viel
zu tun haben.
Obwohl er ja noch immer auf
der Suche nach einer (seiner) „gesuchten Wissenschaft“ ist (die offensichtlich
mit Philosophie zu tun haben soll), wird mit der ersten Aporie unter einer
bestimmten Hinsicht die Frage aufgeworfen: eine oder mehrere Wissenschaften?
Damit bezieht er sich auf eine andere Voraussetzung als die einer „rein
philosophischen“ Tradition. Nämlich die Voraussetzung einer Pluralität von
Wissenschaften. Ich nenne das in Anlehnung an eine kantische Formulierung das
„Faktum der Wissenschaftskultur“. Dieses Faktum existierte zu seiner Zeit
einmal in der Form, daß es eine ganze Reihe von Wissenschaften schon seit
langem oder auch seit kürzerem gab und zwar ohne großes Zutun
aristotelischerseits: Mathematik, Medizin zum Beispiel; zum anderen auch in der
Form, daß Aristoteles selber sich bereits in einigen Wissenschaften betätigt
hatte und wohl auch schon seine Wissenschaftsklassifikation entworfen hatte
(worauf jedenfalls eine Andeutung in Buch I verweist).
Übrigens ist es das Faktum
einer entfalteten Wissenschaftskultur, die es in Österreich zum ersten Mal in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab und die dann fast unvermeidlicher-,
man kann auch sagen fast ungewollterweise zur Emergenz von Philosophie führte.
Das erste Argument, das
Aristoteles hier vorbringt, lautet, daß unbewegte Dinge keine
Bewegungsprinzipien brauchen und das Bewegungsprinzip, das er hier meint, ist
das Gute, er sagt sogar „die Natur des Guten“: die Qualität, die Eigenart, ja
die Kraft des Guten, Wertvollen, Nützlichen usw. Denn diese Qualität löst die
Handlungen, die menschlichen Aktionen aus, die ja auch Bewegungen, Veränderungen
sind. Als Beispiel für „unbewegte Dinge“ nennt er die Mathematik: das sind
zunächst die Elemente, Formen und Gesetze, denen Aristoteles zwar keine
„abgetrennte“ Existenz, wohl aber eine bestimmte Struktur, man könnte sagen
eine „idealische“ Struktur zuspricht. In diesem Feld gibt es sehr wohl
„Ursachen“, besser gesagt, „Prinzipien“, aber keines von der Art des „Besseren“
oder „Schlechteren“. Das Dreieck hat die Winkelsumme von 180° - die Ursache
dafür liegt in der planen und geschlossenen Dreieckigkeit und nicht etwa in
irgendeiner Vorzüglichkeit der Zahl 180. Im Feld der mathematischen Sachen gibt
es kein Besser oder Schlechter, schon gar nicht etwas „Selbstgutes“, wie
Aristoteles in Anlehnung an seinen obigen Sprachgebrauch ((991a 29) sagt, womit
er zweifellos auf die platonische Idee des Guten anspielt.
Allerdings richtet sich
seine Argumentation weniger gegen die Platoniker, sondern eher gegen
Pragmatizisten sophistischer (oder angelsächsischer) Art, die sich keine
Wissenschaft vorstellen können, in denen es nicht um Besser oder Schlechter
geht. Aristoteles erwähnt hier den Sokrates-Schüler (und Libyer) Aristippos von
Kyrene (425-355), der die Nutzlosigkeit von Logik und Mathematik betont
haben soll. Derartige Pragmatizisten hätten darauf hingewiesen, daß
selbst in so „banausischen“ Künsten wie dem Zimmerhandwerk oder dem
Schusterhandwerk viel von Besser und Schlechter die Rede sei. Wenn die
Mathematik das Gute außer Acht lasse, dann würde sie sich selber sozusagen aus
dem Spiel nehmen.
Aristoteles scheint hier
die relativ moderne Frage zu berühren, ob Wissenschaft wertfrei zu sein habe
oder nicht. Für die Mathematik beamtwortet er die Frage mit ja, weil im Feld
der mathematischen Sachen ein Besser oder Schlechter nicht vorkomme. Daher dürfe
auch der Mathematiker sie in seiner Argumentation, also in seiner Tätigkeit
nicht einführen. Andernfalls würde er die Qualität seiner Tätigkeit zerstören –
denn quer zur Wertfreiheit der mathematischen Sachen und der mathematischen
Argumentation steht diese - wie ich nun sage - sehr wohl unter einem
Wertgesichtspunkt: nämlich dem der guten Argumentation, die auf ein hohes Gut
gerichtet ist: die Erkenntnis oder Wahrheit.
Aristoteles selber führt
hier die Erörterung gar nicht weiter und im übrigen würde er das moderne
Vokabular von „Werten“ sowieso nicht gebrauchen. Aber er teilt die zitierte
Geringschätzung von banausischen Handwerkskünsten und würde sich auch die
Hochschätzung einer rein theoretischen Tätigkeit wie der mathematischen
durchaus zu eigen machen. Dabei handelt es sich um „soziale“ Geringschätzungen
und Hochschätzungen. Die Hochschätzung der theoretischen Tätigkeit impliziert
einerseits eine sachliche Wert- oder Schätzungsfreiheit der theoretischen
Tätigkeit und andererseits eine metasachliche aber ebenfalls immanente
Schätzung, ja leidenschaftliche Hochschätzung der Wahrheit.
Walter Seitter
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