τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 24. Januar 2013

In der Metaphysik lesen (996b 1 – 18)



 Die Tätigkeit des Mathematikers ist wie jede andere Tätigkeit eine „Bewegung“ oder „Änderung“: ein Übergehen von einem Ruhezustand zu einer mentalen bzw. sprachlichen Operation, einer Abfolge von Operationen, und diese Tätigkeit hat wie jede andere auch ein Ziel, eine Zweckursache: Einsicht, Aufweis, Darlegung in bezug auf Wahrheiten, die selber allerdings nicht neu sind; neu ist diese konkrete Operation dieser oder jener Person.

Daß Aristoteles auch das Ziel oder den Zweck als Ursache bezeichnet, mag uns befremden, auch das Gute als „Ursache“. Eher würden wir von „Grund“ sprechen, von Motiv – die wir unserer Innerlichkeit zurechnen. Er kennt eben sehr vielfältige Ursachen: kein univoker Begriff, sondern ein analoger. Das Gute als „Ursache“ entspricht überhaupt nicht der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung, die sich ja in der Zweiteilung Naturwissenschaften-Geisteswissenschaften manifestiert. Weder für diese noch für jene kommen Gutes, Zweck, Wert als maßgebliche Kriterien in Frage; beide kennen nur „Tatsachen“, die man unter „Sein“ subsumieren kann, aus welchem man auf kein „Sollen“ schließen kann. Sogenannter Positivismus, der laut Hans Kelsen sogar für die Rechtswissenschaft maßgeblich sein soll. Obwohl andererseits die alte Fakultäten-Einteilung mit Jurisprudenz, Medizin, Theologie Ausbildung zu Berufstätigkeiten vorgesehen hat, die als Tätigkeiten natürlich nicht „wertfrei“ sein konnten, sondern staatsfördernd, gesellschaftsfördernd sein mußten. Andererseits haben die Technik- und die Kunsthochschulen indirekt an den griechischen techne-Begriff angeknüpft, der ohne die Besser-schlechter-Unterscheidung nicht auskommt (wie die obige Erwähnung der Handwerker zeigt).

Dann kommt Aristoteles auf seine Formel von der „gesuchten Wissenschaft“ zurück und stellt die Frage, zu welcher Art von Ursachen-Wissenschaft diese wohl gehören dürfte. Er wiederholt die Frage in Richtung Personen: wer könnte der kundigste in „der gesuchten Sache“ sein, womit immerhin vorausgesetzt wird, daß es die gesuchte Wissenschaft mit einer bestimmten Sache zu tun habe. Wobei er eine bestimmte Ursachen-Art im Auge hat und die vier Ursachen-Arten rekapituliert er im folgenden am Beispiel des Hauses: dessen Bewegursache sei die Kunst und der Baumeister (was genaugenommen doch zweierlei ist), der Zweck sei das Werk (eine doch eher tautologische Auskunft, die nichts über die Funktion oder den Gebrauchswert des Hauses verrät), der Stoff Erde und Steine, die Form aber der Begriff. Damit werden eidos und logos so gut wie gleichgesetzt – noch direkter als in der oben herangezogenen Stelle aus der Physik. Eine Gleichsetzung, die doch stark in Richtung linguistic turn oder gar Nominalismus geht.

Jedenfalls werden mit diesen vier Ursachen vier Ursachen-Wissenschaften suggeriert. Welche davon kann am ehesten den altehrwürdigen Titel der „Weisheit“ für sich in Anspruch nehmen, der oben in 982a eingeführt worden ist – und zwar als mögliche Bezeichnung für die „gesuchte Wissenschaft“. Dort hat Aristoteles mehrere Definitionen der Weisheit vorgelegt. Jetzt werden für die Weisheit mehrere Kriterien namhaft gemacht: herrschendste Wissenschaft, Wissenschaft vom Ziel und vom Guten, Wissenschaft von den ersten Ursachen und vom Wißbarsten, Wissenschaft vom Wesen (ousia), Erkennen mittels des Seins und nicht des Nicht-Seins (siehe Hegel, Heidegger, Buddhismus), Wissenschaft vom „was ist“ und nicht vom Wieviel, Wiebeschaffen, vom Tun oder Leiden. Die letzten Bestimmungen zielen auf das Wesen im Unterschied zu den Akzidenzien – und somit nicht auf das Ziel sondern eher auf die Form. Also scheint Aristoteles hier die Weisheit kumulativ zu definieren: Zweckursache und Formursache sowie Abweisung des Nichtseins. Die Definition geht in Richtung Maximum, Maximalwissen, Superlativstellung und Superlativanspruch.

Walter Seitter

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