Die Tätigkeit des
Mathematikers ist wie jede andere Tätigkeit eine „Bewegung“ oder „Änderung“:
ein Übergehen von einem Ruhezustand zu einer mentalen bzw. sprachlichen
Operation, einer Abfolge von Operationen, und diese Tätigkeit hat wie jede
andere auch ein Ziel, eine Zweckursache: Einsicht, Aufweis, Darlegung in bezug
auf Wahrheiten, die selber allerdings nicht neu sind; neu ist diese konkrete
Operation dieser oder jener Person.
Daß Aristoteles auch das
Ziel oder den Zweck als Ursache bezeichnet, mag uns befremden, auch das Gute
als „Ursache“. Eher würden wir von „Grund“ sprechen, von Motiv – die wir
unserer Innerlichkeit zurechnen. Er kennt eben sehr vielfältige Ursachen: kein
univoker Begriff, sondern ein analoger. Das Gute als „Ursache“ entspricht
überhaupt nicht der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung, die sich ja in der
Zweiteilung Naturwissenschaften-Geisteswissenschaften manifestiert. Weder für
diese noch für jene kommen Gutes, Zweck, Wert als maßgebliche Kriterien in
Frage; beide kennen nur „Tatsachen“, die man unter „Sein“ subsumieren kann, aus
welchem man auf kein „Sollen“ schließen kann. Sogenannter Positivismus, der
laut Hans Kelsen sogar für die Rechtswissenschaft maßgeblich sein soll. Obwohl
andererseits die alte Fakultäten-Einteilung mit Jurisprudenz, Medizin,
Theologie Ausbildung zu Berufstätigkeiten vorgesehen hat, die als Tätigkeiten
natürlich nicht „wertfrei“ sein konnten, sondern staatsfördernd,
gesellschaftsfördernd sein mußten. Andererseits haben die Technik- und die
Kunsthochschulen indirekt an den griechischen techne-Begriff angeknüpft,
der ohne die Besser-schlechter-Unterscheidung nicht auskommt (wie die obige
Erwähnung der Handwerker zeigt).
Dann kommt Aristoteles auf
seine Formel von der „gesuchten Wissenschaft“ zurück und stellt die Frage, zu
welcher Art von Ursachen-Wissenschaft diese wohl gehören dürfte. Er wiederholt
die Frage in Richtung Personen: wer könnte der kundigste in „der gesuchten
Sache“ sein, womit immerhin vorausgesetzt wird, daß es die gesuchte Wissenschaft
mit einer bestimmten Sache zu tun habe. Wobei er eine bestimmte Ursachen-Art im
Auge hat und die vier Ursachen-Arten rekapituliert er im folgenden am Beispiel
des Hauses: dessen Bewegursache sei die Kunst und der Baumeister (was
genaugenommen doch zweierlei ist), der Zweck sei das Werk (eine doch eher
tautologische Auskunft, die nichts über die Funktion oder den Gebrauchswert des
Hauses verrät), der Stoff Erde und Steine, die Form aber der Begriff. Damit
werden eidos und logos so gut wie gleichgesetzt – noch direkter
als in der oben herangezogenen Stelle aus der Physik. Eine
Gleichsetzung, die doch stark in Richtung linguistic turn oder gar
Nominalismus geht.
Jedenfalls werden mit
diesen vier Ursachen vier Ursachen-Wissenschaften suggeriert. Welche davon kann
am ehesten den altehrwürdigen Titel der „Weisheit“ für sich in Anspruch nehmen,
der oben in 982a eingeführt worden ist – und zwar als mögliche Bezeichnung für
die „gesuchte Wissenschaft“. Dort hat Aristoteles mehrere Definitionen der
Weisheit vorgelegt. Jetzt werden für die Weisheit mehrere Kriterien namhaft
gemacht: herrschendste Wissenschaft, Wissenschaft vom Ziel und vom Guten,
Wissenschaft von den ersten Ursachen und vom Wißbarsten, Wissenschaft vom Wesen
(ousia), Erkennen mittels des Seins und nicht des Nicht-Seins (siehe
Hegel, Heidegger, Buddhismus), Wissenschaft vom „was ist“ und nicht vom
Wieviel, Wiebeschaffen, vom Tun oder Leiden. Die letzten Bestimmungen zielen
auf das Wesen im Unterschied zu den Akzidenzien – und somit nicht auf das Ziel
sondern eher auf die Form. Also scheint Aristoteles hier die Weisheit kumulativ
zu definieren: Zweckursache und Formursache sowie Abweisung des Nichtseins. Die
Definition geht in Richtung Maximum, Maximalwissen, Superlativstellung und
Superlativanspruch.
Walter Seitter
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