In 996a 29ff. hat
Aristoteles die Mathematik einerseits sowie das Zimmerer- und Schusterhandwerk
andererseits gegenübergestellt. Jene handelt von „unbewegten“ oder
unveränderlichen Sachverhalten, in diesen hingegen geht es um Erzeugungen und
Veränderungen, weswegen da auch von Gutem und Schlechtem die Rede sei. In der
Mathematik werden Beweise geführt, die weder von einem Guten ausgehen noch
irgendein Besser oder Schlechter plausibilisieren sollen. Die Mathematik wird
als Prototyp der beweisenden oder „demonstrativen“ Wissenschaft eingeführt. Die
besagten Handwerke sind zunächst einmal keine Wissenschaften. Die für sie
konstitutiven Redeweisen sind einmal die Wunschkundgebungen der Kunden bzw.
Verbraucher, zum anderen die Vorschriften und Anweisungen der Meister gegenüber
den Lehrlingen: optative und präskriptive Redeweisen.
Wenden wir uns wieder den
wissenschafstheoretischen Klassifikationen des 19. und 20. Jahrhunderts zu, so
stellen wir fest, daß da – sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften
– die deskriptiven Vorgehensweisen dominieren: Tatsachenfeststellungen und
–vergleiche sowie Ursachen- bzw. Funktionsfeststellungen. Demgegenüber werden
normative Aussagen nur ungern zugelassen, da ihr wissenschaftlicher Status
prekär erscheint, vor allem kann man aus dem Sein nie auf ein Sollen schließen.
Obwohl manche Tätigkeiten wie diejenige der Jurisprudenz oder der Medizin ohne
irgendein Sollen gar nicht zu denken sind. Im großen und ganzen bemüht man
sich, das Normative aus der Wissenschaft auszuschließen: erstens weil es als
unwissenschaftlich gilt und zweitens weil sich mündige Bürger keinem Sollen
unterwerfen wollen, man hat Angst vor moralisierender Bevormundung und vor
religiösen Zwängen.
Aus der aristotelischen
Gegenüberstellung zwischen Mathematik und Handwerken können wir ersehen, daß es
neben der Mathematik, die demonstrativ vorgeht und damit einen höheren Grad des
Deskriptiven erreicht, auch rationale Vorgehensweisen gibt, die aber nicht
gleich mit Normen daherkommen, sondern vielmehr von Wünschen ausgehen.
Neben den deskriptiven
Sprechweisen gibt es zunächst einmal die optativen Vorgehens- und Sprechweisen:
die Leute wollen dieses und jenes, halten dies für besser, das für schlechter,
sie haben Optionen und Präferenzen; es öffnet sich die weite Landschaft des
Optativen. Und ausgerechnet das ist in bzw. aus der modernen
Wissenschaftsauffassung noch viel gründlicher und radikaler eliminiert worden
als das Normative, das sich immerhin – zumindest angeblich – doch immer wieder
als unvermeidlich einschleicht. Ernsthafte Philosophen wie Kant haben sogar von
einem Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen gesprochen. Hat er
damit einen Primat des Normativen oder des Optativen gemeint? Nach allgemeiner
Auffassung eher den ersten. Im 19. Jahrhundert beginnt gleichwohl die
philosophische Karriere des Willens als erster Instanz: Fichte, Schopenhauer
(aber bei dem wieder nur deskriptiv und mit der Intention (mit dem Willen?) zur
Stilllegung des Willens (also zur Depression)), Nietzsche, auch Freud könnte
man dazunehmen (aber da in der Form einer schwülen Sexualisierung).
Die Protagonisten des
expliziten und großformatigen Wünschens sind die sogenannten „Utopisten“ (ein
Titel, mit dem das Wünschen aber wieder ganz und gar auf den Mangel
zurückgeführt wird). Wie die Autoren des Anti-Ödipus zurecht
kritisieren. Diese haben das Wünschen immerhin auch als „objektive“ Realität
anerkannt. Gleichzeitig haben sie das Vokabular in Absetzung von Lacan arg
vereinfacht: bei Lacan finden wir annähernd die Begriffspalette, welche die
Umgangssprache immer schon bereithielt: Wunsch (Begehren), Lust, Genießen,
Liebe ...
Angeregt durch Aristoteles
sollten wir diese Dimension auch in der metasprachlichen
Wissenschaftsklassifikation installieren und die moderne Zweiteilung
zwischen „deskriptiv“ und „normativ“ („präskriptiv“) durch das dritte (oder
zweite) Glied „optativ“ ergänzen.
Schauen wir auf die
Bestimmungen der „gesuchten Wissenschaft“ oder „Weisheit“ in 996b 10ff., so
finden wir da an erster Stelle eine, die ihr den Superlativ des Normativen
zuspricht, sogar einen doppelten Superlativ: sie ist die „herrschendste“ und
„führendste“ – gegenüber den anderen Wissenschaften. Aber warum ist sie
das? Weil sie herrschsüchtig ist? Das wäre eine etwas schwache oder
vielmehr eine sehr bestreitbare Ambition. Ich meine, daß Aristoteles ihr zwei
andere Bestimmungen sozusagen als Grundlage ihres Herrschaftsanspruches
zuspricht. Sie ist die Wissenschaft nicht vom Besseren und Schlechteren (wie
etwa alle poietischen und praktischen Wissenschaften, die etwas wünschen),
sondern vom „Selbstguten“, von der „Natur des Guten“, vom Superlativ des Guten
– und das heißt sie ist auch der Superlativ des Wünschens, Wollens, Strebens:
denn nur dieser hat die Kraft, sich dem Selbstguten zuzuwenden, zu öffnen, es
zu „fassen“, sich ihm zu stellen, ihm gegenüberzustehen. Und sie ist die
Wissenschaft vom Wißbarsten: das stärkste, das erkennendste, erleuchtetste und
erleuchtendste Wissen vom Lichtvollsten, Klarsten, Deutlichsten.
Erkenntnissuperlativ, der den Superlativ des Ursächlichsten, des Seiendsten,
Wesenhaftesten erfaßt.
Es handelt sich um eine
Verknüpfung von drei oder vier Superlativen. Aber mir kommt es jetzt weniger
auf diese Superlativposition an, sondern auf die Mehrzahl der Dimensionen und
da greife ich die „subjektiven“ Einstellungen heraus, die sich als
erkenntnispolitische Einstellungen und folglich auch als
wissenschaftstheoretische Positionierungen benennen lassen.
Die aus dem frühen 20.
Jahrhundert überlieferte Gegenübestellung von
deskriptiv normativ
läßt sich vervollständigen
zu
deskriptiv
optativ
demonstrativ
normativ
Die Deskription bezieht
sich auf die faktischen Akzidenzien, von denen Aristoteles hier vier nennt
(Quantität, Qualität, Wirken, Leiden). Die Demonstration operiert mit logischen
und mathematischen Notwendigkeiten (einen gewissen Abglanz davon vermag laut
Aristoteles die gute Dichtung mit anderen Mitteln herzustellen). Von ihr ist
noch einmal die Einsicht in die Wesenheiten zu unterscheiden – nennen wir sie
Intuition (die auch mit der Deskription verwandt ist).
Im Superlativ der
„Weisheit“ koinzidieren die „theoretischen“ Einstellungen (im Schema links) mit
den „praktischen“ (im Schema rechts). In der Pluralität der „anderen“
Wissenschaften (und Künste und Tugenden) treten die Einstellungen auseinander.
Begnügen wir uns vorläufig damit, in den unteren Geschoßen die vier oder fünf
Einstellungen zu unterscheiden.
Walter Seitter
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