4.12. Zwischenaufenthalt
in Dresden. Gang durch die verschneite Stadt mit ihren noch immer sichtbaren
,Leerstellen‘. Fragmentarisierte europäische Geschichte zwischen kurfürstlichen
Barockbauten, großbürgerlichen Villen und einer die Bombenruinen notdürftig verdeckenden
realsozialistischen Architektur. Erfreulich produktives Arbeitstreffen mit
Frank Böckelmann zur neugegründeten Vierteljahreszeitschrift TUMULT. Abends
weiter nach Berlin. Hotel.
5.12. An diesem
winterlich-kalten Morgen zum nahegelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof in
Berlin-Mitte. Schon traditioneller Besuch des Grabs von Brecht. In
unmittelbarer Nachbarschaft liegen auch Hanns Eisler und Heinrich Mann. Letzter
Ort für einen Großteil der DDR-Kulturschaffenden, aber auch für Herbert
Marcuse, George Tabori oder Fritz Teufel – und inmitten von allen die „Ruhestätten“
von Hegel und Fichte (mit Gattinnen). Ein Rundgang also durch 200 Jahre
deutscher Aufklärung mit all ihren Um- und Seitenwegen, skizziert als
Gräberfeld. Am Ende, wie einer geheimen Logik folgend, dann vor Heiner Müllers
schlichtem Grab.
Später dann Savignyplatz.
In einer der Buchhandlungen überraschend Klossowskis „Bad der Diana“ in Händen,
jene elegante, längst vergriffene deutsche Ausgabe mit Zeichnungen von
Brinkmann & Bose. Unmittelbar danach Treffen mit Christian Bertram, Berliner Regisseur und intimer Kenner des Klossowskischen Werks im Café Savigny. Lesen gemeinsam
die heute in der „Süddeutschen“ erschienene Rezension zum letzten „MEGA“-Band
des „Kapitals“ (und aller Vorarbeiten). Damit liegt Marxens Analyse des kapitalistischen
Produktions- und Zirkulationsprozesses in nunmehr 15 Bänden (23 Teilbänden!) vor
dem Leser ausgebreitet wie ein riesiger Archipel. Was jetzt erstmals auch sichtbar
wird, ist ein über Jahrzehnte hinweg überbordender Schreibfluss, in hohem Maße ,ineffizient‘
in Form und Ziel, nicht aber in der tiefschürfenden Beschreibung seines
Gegenstands (fast ist man gewillt zu sagen, die hier quantitativ entfesselte
Zeichenproduktion verhält sich kontrapunktisch zu jeglicher industriellen
Logik). Eine hochaktuelle Einsicht von Marx lautet dabei, dass im Streben nach
Profit die eigentliche Produktion nur mehr „ein bloßes Mittel zur Verwerthung
des Kapitalwerths“ ist. Unser Gespräch dreht sich im Folgenden wieder um die
,grundlegende‘ Bedeutung der „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte“ von 1844
für „La monnaie vivant“. Wichtig erscheint mir dazu, dass beide Texte, geschrieben
im Abstand von rund 125 Jahren in Paris, gleichzeitig flüchtige und konzentrierte Denkbewegungen
vollführen, die wie kleine Geschosse wirken. Abgefeuert in zwei zeitlich
markanten Beobachtungsmomenten, ist ihre zentrale Intention die Befreiung der
Sinne des von den industriellen Produktionsmitteln beherrschten modernen Individuums.
Fourier, Marx, Klossowski zeigt auch an, dass Benjamins Paris als Hauptstadt
der 19. Jahrhunderts mitten in das krisenerschütterte 20. Jahrhundert transformiert
wurde, nunmehr als hedonistisch umkämpfter phantasmatischer Ort des
US-amerikanischen Kapitalismus (etwa am Beispiel Filmindustrie).
Im Anschluss an
unsere Diskussion über Klossowski und die geplante Berliner Ausstellung zu
„LMV“ gemeinsame Fahrt zur Universität der Künste, wo Siegfried Zielinski, dort
Professor für Medientheorie, eine Gesprächsreihe programmiert. Sein Gast an
diesem Abend: Florian Rötzer. Dessen Vorstellung hörte sich vorerst ein wenig nach
professoraler Faktenhuberei an, erschloss jedoch im weiteren Verlauf eine beeindruckende
und wirkungsvolle publizistische Produktion, etwa den zahlreichen klug
geführten Gesprächen mit den wichtigsten deutschen und französischen
Philosophen und Künstlern der Zeit. Als Redakteur für das „Kunstforum
international“ hat er damit jahrelang zukunftsweisende Theoriedebatten initiiert.
Dazu war er auch Mitglied der Redaktion von TUMULT. Im Gespräch mit Zielinski
kam er dann noch auf die persönliche Zäsur in seinem Schreiben Mitte der 1990er
zu sprechen. So riskant ihm anfangs die Entscheidung zu einem radikalen Medienwechsel
als Autor des Online-Magazins „Telepolis“ auch erschien, war dieser Schritt reizvoll,
da sich bereits die Verschiebung der Kommunikation in den telematischen Bereich
hinein abzeichnete. Im künstlichen Raum des Netzes konnte man, so Rötzer, anders
als in den alten künstlichen Welten der Stadt, noch viel aktueller und
unmittelbarer agieren.
6.12. Treffen mit Walter
Seitter und Christian Bertram im Literaturhaus in der Fasanenstraße. Vom Tisch
aus einen schönen Blick in den verschneiten Garten. So fühlt man sich als
alpiner Mensch in Berlin noch wohler. Wir sprechen über die Zusammenarbeit
Klossowskis mit dem Filmemacher und Fotografen Pierre Zucca für „LMV“. Dabei
muss vieles natürlich spekulativ bleiben. Trotzdem nochmal aufschlussreiche
Erläuterungen zum Zustandekommen der einzelnen Bildinszenierungen, die nach
Klossowski wie eine „große Maschine“ (die Theatermaschinen von der Antike bis
ins 19. Jh. zum Vorbild nehmend) funktionieren. Die Bildfolge in der
Originalausgabe von „LMV“ zeigt sich, anders als der parallel verlaufende ,unförmige‘
Textkorpus, im Einzelnen streng komponiert, als Ganzes jedoch ebenso bastlerisch-experimentell
angelegt. Ästhetische Strategie in beiden Fällen: die Subversion des Sinns. Wir
kamen noch auf das Klossowski-Buch von Alain Jouffroy, „Le secret pouvoir du
sens“, zu sprechen. Schwierige Frage dabei, ob man im Titel „Sinn“ oder „Sinne“
übersetzen soll, da die Bedeutungen im Deutschen merkwürdig auseinanderdriften.
(Am Abend sollte ich in einer Buchhandlung in Kreuzberg auf Brigitte
Burmeisters erhellende Studie zu Claude Simons Werk stoßen: „Die Sinne und der
Sinn“!)
Am Abend Konzert
im Festsaal Kreuzberg von Peter Brötzmanns Full Blast. Eineinhalb Stunden
hochenergetische Musik des siebzigjährigen Saxophonisten, der, stets
geistesgegenwärtig, den aufbrechenden Sound der sechziger Jahre heute
sinnlicher denn je weitertreibt. Im Publikum sehe ich Zielinski wieder, so
klein kann Berlin sein.
7.12. Vormittags zur
„Mythos Olympia“-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Draußen herrscht tiefer Winter,
während ich mit Walter Seitter durch die lichtdurchfluteten ,imperialen‘ Räume
des Museums schlendere. Überraschenderweise wirken die zahllosen
Ausstellungsobjekte, also allerlei Kult- und Gebrauchsgegenstände, sowie die Modellrekonstruktionen
und Pläne weniger anstrengend als erwartet. Spannend nachgezeichnet ist dabei
die archäologische Forschungsgeschichte der Kultstätte in ihrer für das 19.
Jahrhundert typischen ,kolonialistischen‘ Geste, auch wenn damals viele der
originalen Skulpturen(-fragmente) in Griechenland verblieben. Das 3000 Jahre
alte, dem Zeus geweihte Heiligtum wird hier anhand von bedeutenden
Grabungsfunden und Modellen als gigantischer Schauort inszeniert (schön die
Abbildung der Stieropferstätte mit meterhoher Asche!), dem die architektonischen
Gegebenheiten des Gropius-Baus optimal entsprechen. Der Zeustempel aus dem 5.
Jh. v. Chr. mit der monumentalen Götterstatue – einem der antiken Sieben
Weltwunder – bildet ein zentrales Thema der Ausstellung, wobei dem mit der Statue
des Zeus beauftragten Phidias, berühmtester Bildhauer seiner Zeit, sogar ein
eigenes ,Atelier‘ gebaut wurde, im Maßstab des Tempels! Den höchsten Gott zu
modellieren oblag also nur dem Starkünstler – ein frühes Beispiel des Zusammenwirkens
von Religion und Kunst. Was die Herausbildung der einzelnen Disziplinen aus
Leicht- und Schwerathletik angeht, so scheinen sie, im festlichen Rahmen des Wettstreits
unter nackten Männern, der Einübung in kriegerische Fähigkeiten zu dienen – man
erinnert sogleich, dass die Stadt dieser Schau 1936 eine pervertierte
Wiederaufnahme solcherart „Weihespiele“ als demonstrative Vorbereitung für
einen Krieg mit rassistischer Ausrichtung lieferte. Auch heute enthalten die
Olympischen Spiele noch zahlreiche Kampfsport- und Schießbewerbe. Weniger
bekannt ist hingegen die Tatsache, dass es bei den antiken Spielen auch Frauenbewerbe
gab, etwa einen Jungfrauenlauf zu Ehren der Hera. Und eine letzte Analogie bietet
sich an: der brutale Wettstreit um die Ausrichtung der Spiele, den das antike
Elis (mit Hilfe Spartas) für sich entschied. Als Trainingsort lag es rund 60 km
von den heiligen Wettkampfstätten entfernt – eine Distanz, die heute üblich für
Olympia ist.
Gemeinsam mit
Walter Seitter am Nachmittag noch zur Konferenz „Bonds. Schuld, Schulden und
andere Verbindlichkeiten“ im Haus der Kulturen der Welt. Interessante Präsentationsform
dieser Theorie-„Session“: Die einzelnen Beiträger fungieren abwechselnd als
Moderatoren und Protagonisten. J. Hörisch leider versäumt, aber Ch. v. Braun
nimmt in ihrem Beitrag so manche bekannte Überlegung Hörischs wieder auf,
irritiert aber mit der These von der Schuldproduktion der christliche Religion durch
den Tod des Gottessohns. Damit werde auch die Gelddeckung nur mehr über den
menschlichen Körper vollzogen (Hostie – Münze). Der junge tschechische Ökonom T.
Sedlacek vertritt eloquent-theatralisch die These von der religiösen Struktur
der Ökonomie. B. Priddat spannt dazu einen großen kultur- und wirtschaftshistorischen
Bogen vom Übergang des Religiösen zum Ökonomischen, und weiter vom
Verpflichtungszusammenhang der Familie zu jenem der neuen, anonymisierten Handelsgesellschaften,
wodurch der Vertrauensvorschuss (so nebenbei: heute ein Alltagsbegriff) noch
viel wichtiger für die Entwicklung des Kapitalismus wird. W. Pircher unternimmt
einen vorerst überraschenden Dekonstruktionsversuch zur Entstehung der Schrift.
An ihrem Beginn in Mesopotamien standen demnach nicht Dichter, sondern
Ingenieure und Buchhalter, die für die Technik der Bewässerungsanlagen wie für die
Aufzeichnung der Lagerbestände und Schuldverhältnisse sorgten. Der Zusammenhang
zwischen dem Entstehen von Schulden und Schrift in sesshaften Gesellschaften erscheint
so irritierend wie einleuchtend.
Höre noch M.
Hutter, der zwei soziale Figuren des Schuldenmachens zeichnet: die positive des
Kreditnehmers und die negative des Verschuldeten. Kredite erfordern aber auch
die nötige Geduld beim Gegenüber: dem Kreditgeber.
Heimgang durch den
dunklen, verschneiten Park vor dem Hauptbahnhof.
8.12. Vormittags
zum Workshop „Georges Bataille. Kulturtheorie an den Rändern der Wissenschaft“
im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. C. Wild referiert über die
Souveränität der Zeichen und ihre Transgressionsbewegungen vor allem in den
frühen Erzählungen „Madame Edwarda“ und „Die Geschichte des Auges“. Nacktheit
der Figur bedeutet für den Erzähler auch Nacktheit der Zeichen, Schreiben also
als pornographischer Akt. Das ,alte‘, nicht der Repräsentation dienende Zeichen
soll nach Bataille in der Moderne neu sichtbar werden. Treffe hier noch mal
Walter Seitter, der mich Rita Bischof vorstellt, deren Bataille-Arbeiten ich
seit langem kenne. In der langen Mittagspause trotz der Kälte lieber auf den
Bücherflohmarkt an der S-Bahnstation Friedrichstraße. Dort Rudolf Arnheims
„Film als Kunst“ von 1932 gekauft. Darin eine frühe Analyse filmischer Mittel und
eine Theorie der Wahrnehmung anhand dieses neuen Mediums. Am späteren
Nachmittag Fortsetzung der Referate mit G. Maisuradze zum „Souveränen Menschen
bei G. Bataille und C. Schmitt“. Moderne Souveränität wurde erst durch Tod des
Königs möglich – dessen Platz musste also entsakralisiert werden. Beide setzen nun
der neuen Ordnung der Normalität – der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem
Souverän, dem Beamten – eine neue Souveränität entgegen. Bei Bataille ist es
der individuelle Exzess, um ein freier, souveräner Mensch zu werden, bei
Schmitt der staatliche zu einer neuen Ordnung. Beide Souveränitätsbewegungen
verhalten sich dabei gleichgültig gegenüber ihren Opfern. Allgemein etwas enttäuscht
vom Gehörten dieser sehr ,internen‘ Veranstaltung, die nur wenig über bekannte historisierende
Leseweisen Batailles hinausging. Seine heterogen gesetzten, exzessiven Denk-
und Schreibbewegungen boten den Referenten, entgegen der Ankündigung, überraschend
wenig aktuelle Anknüpfungspotentiale.
Am frühen Abend überhasteter
Aufbruch Richtung Bahnhof.
Horst Ebner
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