Die FAZ vom 11. April 2014
berichtet, daß am Tag zuvor die Mehrheit im Europarat (Straßburg) Rußland, das
heißt den 18 russischen Abgeordneten, bis zum Ende dieses Jahres das Stimmrecht
entzogen hat. Außerdem wurden diese Abgeordneten aus den Führungsgremien des
Europarates ausgeschlossen. Für diese Resolution stimmten 145 Abgeordnete bei
21 Gegenstimmen und 22 Enthaltungen. Die russische Delegation hatte zuvor den
Saal verlassen.
Die Ausschließungs-Resolution
betraf also nicht alle, die sich nicht der Mehrheitsmeinung angeschlossen haben
– das wären ungefähr 60 gewesen, sondern nur die Vertreter des Staates, dessen
Handlung, nämlich die Annexion der Krim, Gegenstand der Abstimmung (und wohl
auch der vorherigen Beratung) war.
Diese russischen Abgeordneten
haben indessen ihren Ausschluß nicht direkt provoziert – etwa durch rüpelhaftes
oder gar gewalttätiges Verhalten in der Straßburger Versammlung, sondern durch
das politisch-militärische Handeln ihrer Regierung. Ihr Delikt bestand also im
Vertreten einer Minderheitenmeinung, welches sie allerdings durch ihre
Identifizierung mit dem Handeln ihrer Regierung bestärkt haben. Damit ist der
„Widerspruch“ in der Straßburger Versammlung zwar nicht völlig, aber doch weitgehend
ausgeschlossen, jedenfalls stark reduziert worden.
Hier ist auf einer
pragmatischen Ebene reales Widersprechen gegen eine Mehrheitsmeinung
tendenziell ausgeschlossen worden, indem die Widersprechenden – nicht alle,
aber die als Zuwiderhandelnden identifizierten – faktisch ausgeschlossen worden
sind.
Das von Aristoteles im Buch IV
eingeführte und „bewiesene“ Axiom wird häufig als „Satz vom Widerspruch“ oder
aber „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ bezeichnet. Eine ziemlich laxe
A-oder-B-Bezeichnung, die uns schon skeptisch stimmen sollte. Anscheinend ist
doch die Bezeichnung „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ die
vollständigere, jedenfalls exaktere. Trotzdem kann man sie nicht mit
irgendeiner realen Ausschließung von real Widersprechenden in Verbindung
bringen. Im Gegenteil. Aristoteles’ indirekte Beweisführung für diesen Satz
geht gerade nicht als Beweisführung vor, die wahr sein soll. Sie verweist
vielmehr darauf, daß jedwede Beweisführung als Minimalvoraussetzung einen
Beweisdiskussionspartner braucht, der minimalerweise sogar ein Widersprechender
sein darf, ja sein soll – damit an ihm sich zeigt, daß er auch als
Gegen-Argumentierender dieselbe Bestimmtheit der Wörter annehmen muß, die der
Beweisführende verwendet.
Die indirekte Beweisführung
operiert mit der Einbeziehung eines Widersprechenden. Die positive Einbeziehung
des realen oder zumindest möglichen Widerspruchs weist die Notwendigkeit und
Wahrheit des von Aristoteles eingeführten Axioms auf. Daher meine ich, daß
seine Benennung als „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ nicht besonders gut
paßt. Wir werden sehen, daß Aristoteles über dieses Axiom noch ausführlich
schreiben wird, aber eine Benennung desselben sehe ich da nicht (möglicherweise
findet sich bei ihm doch eine Benennung).
Jetzt noch zur Frage, wieso
überhaupt dieses – oder überhaupt ein – Axiom hier eingeführt wird.
Aristoteles’ Antwort: es bezieht sich auf alle Seienden - weil: auf das Seiende
als seiendes. Deswegen also gehört es in die aristotelische Untersuchungsrichtung,
die ich „Ontologie“ nenne. Trotzdem wirkt es wie ein Bruch, beinahe eine metabasis
eis allo genos, in der Reihe der Seinsmodalitäten, welche bisher aufgemacht
worden ist. Als Axiom ist es ein Satz, gehört also selber in die Sagebene und
nicht direkt in die Seinsebene.
Die Erwähnung der Pflanze
scheint eine Dimension aufgerissen zu haben, die wiederum mit Seienden zu tun
hat – aber anders als die aristotelische Ontologie. Die Pflanze ist eine Sorte
von Seienden. Und sie wird erwähnt, um eine andere Sorte von Seienden davon
abzugrenzen, die Seienden, die Sagwesen sind, also die Beweisführer und die
Widersprecher – beide gehören zu den Menschen, die ja „Lebewesen mit Logos“
sind. Pflanzen hingegen gelten für Aristoteles als Lebewesen ohne Logos.[1] Heißt das nun, daß
Aristoteles die Seiendensorten in seine Ontologie einführt, womit er diese so
auffassen würde wie neuerdings die Ethnologen (und vor denen auch schon
Philosophen wie Nicolai Hartmann)? Nein – er macht hier keine Klassifikation
der Seienden auf, aber erwähnen kann er sie schon; sie sind ja Seiende.
Wieso aber gehört das jetzt
eingeführte Axiom zu den Seinsmodalitäten im Sinne der Ontologie? Weil das
Axiom sich auf das Seiende als seiendes bezieht. Und das tut es mit aller
Bestimmtheit: es schreibt ja nur vor, daß man Seiendes als seiendes sagt, A als
A, Nichtseiendes als Nichtseiendes. Es „wiederholt“ ja nur die erste
Gegenstandsbestimmung der Ontologie: Seiendes als Seiendes, x als y.
Die Befolgung dieses Axioms
garantiert leider keine wahre Aussage, sondern nur eine logisch richtige. Der
Satz „Sokrates beendete sein Leben als angesehener und vielfach geehrter
Athener Bürger“ hält sich durchaus ans Axiom, ist logisch ganz richtig, aber
sehr unwahr. Denn das Axiom des Buches IV ist ganz schwach. Mit seiner
Einführung in die Ontologie erweist sich diese als recht minimalistische, ja
als fast-nichtige Veranstaltung. Seiend im Sinne der Ontologie ist jedwedes,
was ein bißchen mehr als nichts ist - und sogar nichts kann als seiend gelten,
wenn es richtigerweise als nichts anerkannt wird.
Die Ontologie schließt keinen
Widerspruch aus. Es sei denn einen „Selbstwiderspruch“. Auch den
Selbstwidersprecher läßt sie gern gelten, wenn er sich schön brav als
Selbstwidersprecher deklariert – wie der angeblich immer lügende Kreter.
[1] Matthew Hall sieht
schon bei dem unmittelbaren Aristoteles-Nachfolger und Botanik-Begründer
Theophrastos von Eresos (371-287) Ansätze, den Pflanzen Wahrnehmung, Strebung
und Intelligenz zuzusprechen. Siehe Matthew Hall: op. cit.: 30ff. Von seinem
einflußreichen Schüler Demetrios von Phaleron (350-280) erhielt Theophrastos
einen Garten geschenkt, der in der Nähe des peripatetischen Lykeions (zu meinem
dortigen Besuch siehe Poetik lesen 2
(73ff.)) liegt und gewissermaßen zur Keimzelle des heutigen Athener
Nationalgartens geworden ist.
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