τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 29. Mai 2014

In der Metaphysik lesen (1008b 32 – 1009b 2)

Zwar erklärte ich am 22. Jänner dieses Jahres, daß wir unsere Metaphysik-Lektüre durchführen, ohne Sekundärliteratur heranzuziehen – aber so einen Vorsatz muß man ja nicht konsequent einhalten. Thomas Buchheims Vortrag vom 15. Mai zwingt geradezu zu einem Brechen dieses Vorsatzes, zu einem Berücksichtigen seiner These, die noch dazu bereits seit vielen Jahren als Buch vorliegt: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens (Hamburg 1986)
Seine These führt bei mir zu einem radikalen Umbau der Aristoteles-Genealogie. Bekanntlich war Aristoteles jahrzehntelang Platon-Schüler und Helmut Kuhn (München) sagte in den Sechzigerjahren, Aristoteles sei Platoniker – aber ein kritischer. Außerdem ist bekannt, daß Aristoteles die sokratisch-platonische Verwerfung der vorsokratischen Naturphilosophen in gewisser Weise rückgängig gemacht hat. Die Auseinandersetzung mit ihnen führt er auch hier im Buch IV – parallel zu derjenigen mit den Sophisten. Er nennt sie öfter „Physiker“ und die meisten seiner eigenen Bücher – diejenigen über die Tiere aber auch das über die Seele – fallen in den Bereich, den er „Physik“ nennt.

Am Beginn des Buches IV hat er zwei Hauptfeinde der Philosophie – der Betrachtung des Seienden – ausgemacht, die Sophisten und die Dialektiker (Platoniker) (die sich ihrerseits seit Sokrates als Feinde gegenüberstanden): 1004b 17-26. Nach der Einführung des „Axioms“ zettelt er eine langwierige Widerlegung der Leugnung des Axioms an und als Leugner des Axioms nennt er einerseits die Naturphilosophen Heraklit, Anaxagoras, Demokrit, andererseits den Sophisten Protagoras und seine Schule. Er unterscheidet diese beiden Typen derselben falschen Lehre, wonach alle Meinungen wahr seien, indem die einen aufgrund von Zweifeln zu falschen Überlegungen gelangt seien, die anderen jedoch sich von ihrer Redekunst hätten verführen lassen. Dementsprechend könnten die einen durch bessere Überlegungen von ihrer falschen Lehre „geheilt“ werden, die andern durch bessere Reden. Die ersten sind die Naturphilosophen, die zweiten die Sophisten. Ihr gemeinsamer Irrtum habe aber auch eine gemeinsame Wurzel: daß sie nämlich alle Erscheinungen für wahr halten. Das grenzenlose Vertrauen in die Erscheinungen – das ist, wie ich sagen würde, die eigentümliche Stärke – oder aber Schwäche – der Griechen. So sehr, daß auch Aristoteles sich ihm nicht entzieht. Allerdings möchte er hier mit der Methode der Unterscheidung einen Ausweg finden, der darauf hinausläuft, daß er sowohl dem Protagoras einerseits recht gibt (speziell gegen Platon) wie auch den Naturphilosophen. Er verlangt von ihnen allerdings nicht nur, daß sie sich auf die vorgeschlagene Unterscheidung einlassen, sondern auch, daß sie die Existenz von etwas Unvergänglichem und Unveränderlichem einräumen. In dem genannten Buch handelt Buchheim davon, wie Aristoteles entgegen der großen sokratisch-platonischen Polemik (die er selber auch mitmacht) wesentliche Lehrstücke der Sophisten aufgreift und sie mit naturphilosophischen wie auch mit platonischen verbindet. Sodaß er zu einer triadischen (borromäischen?) Figur wird: Platoniker (aber kritischer) und Protagoreer (allerdings kritischer) und Physiker (und zwar kritischer). Im Vergleich dazu erscheine ich als nicht so kritischer Physiker und sogar Protagoreer. Die Ineinanderfügung der drei „Kritiken“ macht übrigens aus Aristoteles keinen Kritischen Theoretiker – sondern eher einen multipel Positiven.
Eine Parallelerscheinung zu dieser Erweiterung der Aristoteles-Struktur sehe ich in dem jüngsten Zeitungsbericht über das Lykeion in Athen, wo seinerzeit die Aristoteles-Schule untergebracht war. In meinem Bericht vom 31. Jänner 2010 von meinem Besuch am 25. September 2009 erwähne ich, daß damals auf der großen Wiese hinter dem Nationalgarten (hinter dem Parlament in Athen) nur ein paar Quadratmeter als Ausgrabungsstätte sichtbar waren. In Kathimerini vom 25. Mai 2014 sieht man ein Foto, aus dem hervorgeht, daß jetzt die ganze Wiese umgegraben ist und man weitere Gebäudefundamente gefunden hat. Man hat vor, das ganze Gelände der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 28. Mai 2014

Donnerstag, 22. Mai 2014

In der Metaphysik lesen (1008b 21 – 31)


Die aristotelische „Beweisführung“ für das „Axiom“ versucht zu zeigen, daß es unmöglich ist, irgendetwas und seine Negation bzw. sein Gegenteil zu sagen, zu behaupten, anzunehmen oder zu meinen. Es sei denn, es wird ins Sagen eine Unterscheidung eingeführt, sodaß dann doch nicht dasselbe behauptet oder gemeint wird und sein Gegenteil. Es geht also nicht nur um die „Rettung“ des kognitiv hochrangigen Sagens sondern auch um die des seit Parmenides, Sokrates und Platon eher verachteten Meinens (das denn auch in 1008b 31 gleich wieder eins auf den Deckel kriegt). In dieser Gleichbehandlung des Meinens liegt natürlich auch eine Ausweitung der Gültigkeit des Axioms. Und die wird noch weiter ausgedehnt: auf das Wollen. Also die dem Erkennen gegenüberliegende psychische Kompetenz, die den Griechen nicht unbekannt war, wenngleich sie terminologisch nicht so scharf gefaßt war (so jedenfalls Thanos Lipowatz, der den alten Griechen das Fehlen des Begriffs „Wille“ als Mangel ankreidet (ein Mangel, den Freud und Lacan in gewisser Weise fortsetzen)).

Aristoteles führt hier das Wollen mit dem Beispiel ein, daß jemand nach Megara aufbricht, versucht, in keinen Brunnen zu fallen, was er für ungut erachtet, und alles tut, um nach Megara zu gelangen, was er offensichtlich für gut und momentan für besser hält als sonstwas. All dieses – nämlich nach Megara kommen wollen – kann er nur tun, wenn er an seinem Entschluß festhält (auch wenn Aristoteles zu seiner Formulierung viele Umschreibungen gebraucht). So wie für das Sagen von Wahrem ist auch für das Wollen des Guten (mag dieses noch so „subjektiv“ sein) das Festhalten an einem einmal gefaßten Begriff eine notwendige Bedingung: Festhalten in der Zeit wie auch im Raum bzw. in der Intersubjektivität.

Walter Seitter


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Sitzung vom 21. Mai 2014

Freitag, 16. Mai 2014

In der Metaphysik lesen (1007b 2 – 1008b 20)

Das Buch IV hat eine merkwürdige Struktur. Auf den ersten Seiten wird eine vollkommen neue Version der „gesuchten Wissenschaft“ bzw. der Ersten Philosophie entworfen: Betrachtung des Seienden als seienden mit Vervielfältigung des Sagens des Seienden und Nennung einiger Seinsmodalitäten, von denen nur die erste, nämlich das Wesen, als Ursache oder Prinzip gilt und zwar als immanentestes Prinzip; die anderen Seinsmodalitäten umfassen die Akzidenzien sowie vom Wesen eher noch weiter entfernte Modalitäten – bis hin zu dessen Negation. Anschließend Aufstellung des allgemeinsten Axioms, das sich auch auf alle Seienden bezieht, aber nicht eine Seinsmodalität ist sondern ein Gesetz fürs Sprechen und als solches ein höchstes Prinzip. Dann geht es seitenlang um die Beweisführung für dieses Axiom oder vielmehr um die Widerlegung seiner Negation. Hier wird die Negation ausgeschlossen und im Zuge dieser Ausschließungsbemühung findet eine Art Kampf gegen die Überwältigung des Wesens durch die Akzidenzien statt. In dieser dialektisch-kritisch-polemischen und nicht enden wollenden Widerlegung insistiert Aristoteles auf der Unterordnung der Akzidenzien, denn nur mit ihr lassen sich die Bestimmtheit des Sprechens und die Bestimmtheit des Wollens aufrechterhalten. Ein wichtiges Mittel zur Vermeidung des Nicht-Sprechens im Sprechen sei die Unterscheidung, mit der jeweils bestimmt wird, wovon die Rede ist.
In der Folge wird der Sophist Protagoras (490-411) zum Hauptvertreter der bekämpften Lehre erklärt, derzufolge es nur Meinungen gibt, welche alle wahr seien.
Nun fand gestern ein Vortrag von Thomas Buchheim (München) zum Thema „Der Mensch als Maß der Dinge. Das Protagoreische Prinzip und seine Aufnahme bei Aristoteles“ statt. Darin wurde dargestellt, daß die Ansichten des Protagoras, die als relativistisch gelten, mit seinem sogenannen Homo-Mensura-Satz zusammenhängen, der lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der Nichtseienden, daß sie nicht sind.“ Protagoras war für Aristoteles ein längst bekannter „Fall“, denn Platon hatte sich in mehreren Dialogen ausführlich mit ihm auseinandergesetzt und ihm den Deus-Mensura-Satz entgegengesetzt.

Nach Buchheim hat sich Aristoteles der sokratisch-platonischen Gegenstellung zu Protagoras nicht einfach angeschlossen. Vielmehr hat er die protagoreische Errungenschaft des Messens des Seienden und des Nichtseienden zum Prinzip seiner Ontologie gemacht und er hat sogar den protagoreischen Vorrang des Meinens und des Scheines in gewissem Sinn übernommen, nämlich als Ausgangsebene für die Bemühungen um Wahrheit.

Walter Seitter


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Sitzung vom 14. Mai 2014

Samstag, 3. Mai 2014

In der Metaphysik lesen, Nachtrag


Lese ich weiter, so sehe ich (es ist ein Glück wenn man auch beim Lesen etwas sieht, denn dann kann man vom Gelesenen berichten, ohne die gelesenen Wörter wiederholen zu müssen), daß Aristoteles nicht aufhört, sein Axiom, den Satz vom auszuschließenden Selbstwiderspruch, zu erläutern bzw. zu verteidigen, von dem er behauptet hat, es gehöre zum Seienden als seienden und es sei das allersicherste Prinzip (und zwar ein Sag-Prinzip) und es sei nur indirekt beweisbar (welchen Beweis Aristoteles gerade mit der Einbeziehung der Widerrede führt). Als theoretischen Gegner nannte Aristoteles zunächst, wenn auch nur vorsichtig, den berühmten vorsokratischen Philosophen Heraklit. Dann nennt er den theoretischen Gegner namenlos „Gegenredner“ und macht ihn zwischendurch lächerlich durch den Vergleich mit der Pflanze. Sodann bezieht er sich auf „viele der Naturphilosophen“. Seine Ausführungen halten sich auf der Ebene der Logik, ja der Linguistik und insofern heben sie sich einigermaßen deutlich von der Einführung der Forschungsrichtung, die ich als „Ontologie“ bezeichne, ab. Die recht polemische, aber auch immer detaillierter und ausholender werdende Argumentation versteift sich darauf, die bekannte aristotelische, wohl auch schon platonische Unterscheidung zwischen Wesen und Akzidenzien zu verteidigen. Dem Gegner wird unterstellt, sich in der Unzahl der Akzidenzien zu verlieren, das Wesen in Akzidenzien aufzulösen. Die Vertreter der gegenteiligen Ansicht werden dann mit dem Relativismus des bekannten Sophisten Protagoras identifiziert und gleich darauf mit einer kosmologischen These des Vorsokratikers Anaxagoras, derzufolge irgendwann „alles zusammen war“. Eine solche Unbestimmtheit könne nur „der Möglichkeit“ (dynamei) nach zutreffen, nicht der „Vollendung“ nach (entelecheia)(1007b 28). Hier liefert Aristoteles eine Unterscheidung, mit der er sich – ich würde sagen: wieder – auf die Ebene seiner Ontologie begibt. Zwei Seinsmodalitäten, die er anfangs gar nicht erwähnt hatte, wiewohl sie zum Kernbestand des aristotelischen Denkens gehören. Aber da ist gleich ein zweites, ein untergeordnetes „wiewohl“ am Platz. Denn gewöhnlich wird dem Vermögen, der Möglichkeit (dynamis) der Gegenbegriff der Tätigkeit oder der Wirklichkeit (energeia) gegenübergestellt. Hier aber unterscheidet Aristoteles Vermögen und Vollendung – um seinen theoretischen Gegnern halb doch recht geben zu können. In 1009a 35 wird dieselbe Unterscheidung dazu herangezogen, um die Grundaussage seiner theoretischen Gegner, daß nämlich dasselbe auch sein Gegenteil sein könne, in gewisser Weise zu rechtfertigen. In gewisser Weise, das heißt durch Zerlegung (diairesis) (1008a 27). Die Widerlegung und Zurückweisung der gegnerischen Ansichten, die Heraklit und Anaxagoras, vor allem aber und immer wieder dem Protagoras zugeschrieben werden, würde ich doch von der eigentlich ontologischen Ebene unterscheiden. Beinahe habe ich den Eindruck von einer denkpolizeilichen Veranstaltung, mit der Aristoteles die ontologische Vervielfältigung des Seienden wieder eindämmen möchte – als würde er Angst vor der eigenen Courage bekommen. Der weitaus größte Teil des Buches IV ist diesen Widerlegungen gewidmet, in deren Zug nach dem sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch auch der sogenannte Satz vom ausgeschlossenen Dritten und schließlich auch eine Empfehlung für das Dritte, nämlich die mittlere Position zwischen den Extremen, aufgestellt werden. Andererseits werden en passant doch auch eigentlich ontologische Begriffe eingeführt: nach Vermögen und Vollendung auch Wahrheit und Erscheinendes, Unbewegtheit und Bewegung.

Walter Seitter


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Wien, am 2. Mai 2014

Freitag, 2. Mai 2014

In der Metaphysik lesen (1006b 12 – 1007a 35)


Aristoteles nennt das Axiom des Buches IV das sicherste Prinzip des Syllogismus (1005b 5f.): es ist ein Satz und als Prinzip bezieht es sich auf die Ableitung von Sätzen – insofern gehört es in den Bereich der Logik. Doch führt er es ein, weil es sich auf alle Seienden bezieht und auf das Seiende als solches. Insofern gehört es in die Reihe der Bestimmungen, die sich auf das Seiende als seiendes beziehen. Und meine Aussage, die ontologischen Bestimmungen hätten mit den Prinzipien und Ursachen direkt nichts zu tun, muß relativiert werden. Sie kann nur insofern aufrechterhalten werden, als es nicht zu den seinsmäßigen Ursachen und Prinzipien gehört (die bei Aristoteles letztlich die theologische Dimension eröffnen). 

Ein logisches Prinzip ist bei Aristoteles nicht nur ein logisches: logisches Reden bezieht sich auf die Realität und gelegentlich erläutert Aristoteles das Axiom so, daß ein Etwas dieses Etwas ist und nicht etwas anderes, zumeist aber so, daß eine Aussage von etwas bzw. über etwas eine Aussage von diesem Etwas bzw. über dieses Etwas sein muß. Wenn eine Aussage sich diesem Zwang oder diesem Gesetz entzieht, dann wird sie tatsächlich dafür „bestraft“ – und zwar damit, daß sie gar keine Aussage ist (sozusagen eine automatische Todesstrafe). Wir könnten von einem „Identitätszwang“ sprechen, der sich aber nicht so auf die Realität bezieht, als gäbe es nur eine einzige ständige und ständig identische Realität und alles andere wäre bloßer Schein: Parmenides.  Nur die einzelnen Aussagen müssen sich jeweils als identische durchhalten – um über die Vielheit der Realität, über die vielen Realien etwas sagen zu können. Sie können z. B. über ein Reales sagen, daß es mit seiner Realität nicht weit her ist, daß es bereits im Zustande des Vergehens ist und bald überhaupt nicht mehr existieren wird: eine solche Aussage wäre wohl eine „ontologische“ im Sinn von „ontodramatische“. Sie könnte jedoch oder sollte sogar mit eindeutigen Begriffen operieren – es gibt ja nicht nur die Begriffe „seiend“ oder „Wesen“ sondern auch die Begriffe „entstehen“, „vergehen“, „potenziell“, „nicht seiend“ (ouk on), gar nicht sein dürfend (me on) usw. Die Dichter hingegen dürfen ja sollen bestimmte Sachverhalte mit „unpassenden“ Ausdrücken bezeichnen – aber sie müssen das können, sonst machen sie sich lächerlich. Wenn sie das nicht können, sollten sie sich der normalen Umgangssprache bedienen. Aber auch die kennt eine Steigerungsstufe: die wissenschaftliche, die philosophische Sprache (die kann wiederum mehr ins Poetische gehen wie bei Platon, oder mehr ins Logische wie bei Aristoteles).

Walter Seitter


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Sitzung vom 30. April 2014