Zwar erklärte ich am 22.
Jänner dieses Jahres, daß wir unsere Metaphysik-Lektüre durchführen,
ohne Sekundärliteratur heranzuziehen – aber so einen Vorsatz muß man ja nicht
konsequent einhalten. Thomas Buchheims Vortrag vom 15. Mai zwingt geradezu zu
einem Brechen dieses Vorsatzes, zu einem Berücksichtigen seiner These, die noch
dazu bereits seit vielen Jahren als Buch vorliegt: Die Sophistik als
Avantgarde normalen Lebens (Hamburg 1986)
Seine These führt bei mir zu einem
radikalen Umbau der Aristoteles-Genealogie. Bekanntlich war Aristoteles
jahrzehntelang Platon-Schüler und Helmut Kuhn (München) sagte in den
Sechzigerjahren, Aristoteles sei Platoniker – aber ein kritischer. Außerdem ist
bekannt, daß Aristoteles die sokratisch-platonische Verwerfung der
vorsokratischen Naturphilosophen in gewisser Weise rückgängig gemacht hat. Die
Auseinandersetzung mit ihnen führt er auch hier im Buch IV – parallel zu
derjenigen mit den Sophisten. Er nennt sie öfter „Physiker“ und die meisten
seiner eigenen Bücher – diejenigen über die Tiere aber auch das über die Seele
– fallen in den Bereich, den er „Physik“ nennt.
Am Beginn des Buches IV hat er
zwei Hauptfeinde der Philosophie – der Betrachtung des Seienden – ausgemacht,
die Sophisten und die Dialektiker (Platoniker) (die sich ihrerseits seit
Sokrates als Feinde gegenüberstanden): 1004b 17-26. Nach der Einführung des
„Axioms“ zettelt er eine langwierige Widerlegung der Leugnung des Axioms an und
als Leugner des Axioms nennt er einerseits die Naturphilosophen Heraklit,
Anaxagoras, Demokrit, andererseits den Sophisten Protagoras und seine Schule.
Er unterscheidet diese beiden Typen derselben falschen Lehre, wonach alle
Meinungen wahr seien, indem die einen aufgrund von Zweifeln zu falschen
Überlegungen gelangt seien, die anderen jedoch sich von ihrer Redekunst hätten
verführen lassen. Dementsprechend könnten die einen durch bessere Überlegungen
von ihrer falschen Lehre „geheilt“ werden, die andern durch bessere Reden. Die
ersten sind die Naturphilosophen, die zweiten die Sophisten. Ihr gemeinsamer
Irrtum habe aber auch eine gemeinsame Wurzel: daß sie nämlich alle
Erscheinungen für wahr halten. Das grenzenlose Vertrauen in die Erscheinungen –
das ist, wie ich sagen würde, die eigentümliche Stärke – oder aber Schwäche –
der Griechen. So sehr, daß auch Aristoteles sich ihm nicht entzieht. Allerdings
möchte er hier mit der Methode der Unterscheidung einen Ausweg finden, der
darauf hinausläuft, daß er sowohl dem Protagoras einerseits recht gibt
(speziell gegen Platon) wie auch den Naturphilosophen. Er verlangt von ihnen
allerdings nicht nur, daß sie sich auf die vorgeschlagene Unterscheidung
einlassen, sondern auch, daß sie die Existenz von etwas Unvergänglichem und
Unveränderlichem einräumen. In dem genannten Buch handelt Buchheim davon, wie
Aristoteles entgegen der großen sokratisch-platonischen Polemik (die er selber
auch mitmacht) wesentliche Lehrstücke der Sophisten aufgreift und sie mit
naturphilosophischen wie auch mit platonischen verbindet. Sodaß er zu einer
triadischen (borromäischen?) Figur wird: Platoniker (aber kritischer) und
Protagoreer (allerdings kritischer) und Physiker (und zwar kritischer). Im
Vergleich dazu erscheine ich als nicht so kritischer Physiker und sogar Protagoreer. Die
Ineinanderfügung der drei „Kritiken“ macht übrigens aus Aristoteles keinen
Kritischen Theoretiker – sondern eher einen multipel Positiven.
Eine Parallelerscheinung zu
dieser Erweiterung der Aristoteles-Struktur sehe ich in dem jüngsten
Zeitungsbericht über das Lykeion in Athen, wo seinerzeit die Aristoteles-Schule
untergebracht war. In meinem Bericht vom 31. Jänner 2010 von meinem Besuch am 25.
September 2009 erwähne ich, daß damals auf der großen Wiese hinter dem
Nationalgarten (hinter dem Parlament in Athen) nur ein paar Quadratmeter als
Ausgrabungsstätte sichtbar waren. In Kathimerini vom 25. Mai 2014 sieht
man ein Foto, aus dem hervorgeht, daß jetzt die ganze Wiese umgegraben ist und
man weitere Gebäudefundamente gefunden hat. Man hat vor, das ganze Gelände der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Walter Seitter
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Sitzung vom 28. Mai 2014