Unsere
Diskussion über das Essen hat – am Beispiel krankmachender Nahrungsaufnahme –
gezeigt, dass wichtige Vorkommnisse nicht ohne weiteres als „substanzielle
Veränderung“ (im aristotelischen Sinn) aufgefasst werden müssen. Die
Akzidenzien werden zwar von Aristoteles der ousia untergeordnet,
deswegen müssen sie aber nicht „unwichtig“ sein. Schon ihre Zahl – es sind neun
– schafft ein gewisses Übergewicht über die eine Substanz. Und wenn man sie
sich näher anschaut, dann machen ihre Eigenarten – zum Beispiel Relation,
Wirken, Erleiden – auch nicht den Eindruck von Unwichtigkeit. Eigentlich machen
sie zusammen das aus (allerdings zusammen mit den Substanzen), was man
„Ereignis“, „Dramatik“, „Schicksal“ nennen könnte. Daher ist es kein Zufall, dass
der Erfinder dieser substanzdominierten Ontologie diese seine Ontologie in der Poetik,
und zwar für einen bestimmten Bereich, selber suspendiert, ja subvertiert
hat und die Agenskausalität durch Ereigniskausalität (Uwe Meixner) ersetzt hat.
Keine bestimmte
Ontologie muß das Maß aller Dinge sein: ontologischer Vorrang ist nicht der
einzig mögliche. Und notfalls kann man eine alternative Ontologie aufstellen.
Was das Essen
betrifft, so ist die von uns zur Sprache gebrachte substanzielle Veränderung,
nämlich die Transsubstanziation des Nahrungsmittels ins Wesen der essenden
Person, die sich im „Normalfall“ unbemerkt vollzieht: die ist ja nun wohl doch
nichts Unwichtiges. „Unscheinbar“ ja, „unwichtig“ ganz und gar nicht.
Genaugenommen bildet sie den, jedenfalls einen Hauptzweck des Essens:
fortlaufende Selbsterhaltung des Essenden. Diese Tatsache zur Sprache, nämlich
zur aristotelischen bzw. scholastischen Sprache gebracht zu haben,
ist eine philosophische Leistung, die sich hier in den letzten Tagen abgespielt
hat. Übrigens hat sich das entsprechende Wort auch in der griechischen
Theologie implantiert: metousiasis. Deutsch könnte man sagen: Umwesung.
Doch wieso nur in der Theologie?
Das heißt die
aristotelische Ontologie kann sich doch bewähren, auch wenn sie zunächst einmal
als suspendierbar erscheint. Beide Momente bilden zusammen das, was ich
„Ontologie in actu“, „okkasionelle Ontologie“ nennen würde und wofür ich
im Dezember sogar einmal „Ontographie“ eingesetzt habe. Ontologie in
Diskussion, als Diskussion, als Hin und Her zwischen verschiedenen
Ontologie-Entwürfen: Ontodialogie.
Wir haben ja
ein „unnormales“ Essen herangezogen: das christliche „Gott-Essen“ (Jan Kott).
Wozu das gut ist, ist eine religiöse bzw. theologische Frage. Analog dazu könnte
man andere Sonder-Essen heranziehen: Genussmittel, Drogen. Man könnte auch ein
anderes Mensch-Essen nennen: das Mutter-Essen des Säuglings und die Verwandlung
von Mutter-Substanz in Baby-Substanz (auch eine Form des Wirtschaftens –
Planwirtschaft oder Marktwirtschaft?).
Die Ontologie
kann auf diese Sachverhalte ihre Lichter werfen – beziehungsweise sie selber
wird dadurch provoziert, vielleicht entwickelt oder umgebaut.
In einem
gewissen Sinn aber muß die Ontologie „zurückgestellt“ werden: nämlich wissenschaftspragmatisch.
Wenn man über das Essen oder eine bestimmte Form des Essens wissenschaftlich
und philosophisch arbeiten will, wird man nicht mit der Ontologie beginnen.
Sondern mit Beobachtungen, vorsichtigen Begriffsbildungen, die im Sinn des Aristoteles
zu einer Abteilung der „Physik“ gehören würden. Da könnten dann verschiedene
aristotelische Begriffe für Veränderung eine Rolle spielen: genesis,
phthora, auxesis, kinesis, alloiosis, metabole – von
diesem Wort leitet sich „Metabolismus“ = Stoffwechsel ab. Im übrigen hat
Aristoteles seine eigene Physik der Ernährung aufgestellt, die mit der heutigen
Physik, Chemie, Physiologie nicht übereinstimmt.
Ontologie ist
eine Betrachtungsart, die man dann zusätzlich, sozusagen hybriderweise, auch
noch durchführen kann.
Nun wieder zum
„Einen“ – auch das ein Thema der Ontologie, aber nicht zur Lehre von den
Kategorien bzw. alternativen Seinsmodalitäten gehörig, sondern zur Lehre der
neuscholastisch so genannten „Transzendentalien“. Jetzt wird das Eine mit dem
schon behandelten Begriff arche kombiniert – und das führt zunächst zur
allerbanalsten Bedeutung: nämlich zur ersten Zahl „eins“. Dann gleich eine
Ausweitung: das Eine als Anfang des Erkennbaren: das geht schon in die Richtung
der Transzendentalien, zu denen auch das Erkennbare gehört.
Sodann
Aufspaltung des Einen in mehrere physikalische Gattungen: bei den Tönen die
Diësis, also der kleinste Intervall (Viertel- oder Halbton); bei den
Sprachlauten der Vokal oder der Konsonant: ein merkwürdiges „oder“ zwischen
vokalisch und unvokalisch; beim Gewicht ein x, bei der Bewegung ein y.
Innerhalb jeder Gattung ist das Eine unzerlegbar – dem Quantum nach oder der
Art nach. Hier greift Aristoteles auf das zurück, was er einige Zeilen davor
schon ausgeführt hat.
Die Quantität
wird dann je nach Gelegtheit (Räumlichkeit) oder Nicht-Gelegtheit in Geometrie
und Arithmetik unterschieden, die Geometrie je nach Unzerlegbarkeit und
zählbarer Zerlegbarkeit in Punkt, Linie, Fläche, Körper. Heute spricht man von
„Dimensionen“. Ausführungen, die dann in Kapitel 13 wieder aufgegriffen werden.
Der
geometrische Begriff des Körpers (soma) leitet zum physikalischen
Begriff des Körpers (soma) über, der indirekt auch ontologisch von
größter Bedeutung ist, weil er die allermeisten uns bekannten Substanzen
(ob unbelebte oder belebte) begrifflich exemplifiziert und damit zur
Entmystifizierung der „Substanz“ beiträgt. In allen erwähnten Fällen der
Nahrungsaufnahme geht es um diverse Körper: Körperbewegungen, Körperverwandlungen.
Doch der Begriff „Körper“ ist kein ontologischer. Auch nicht-ontologische
Begriffe können sehr „wichtig“ sein: theoretisch und praktisch.
Walter Seitter
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Sitzung vom 15. April 2015
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