Von Ende März
bis Ende April haben wir eine Reihe von menschlichen Nahrungsaufnahmen
besprochen und jeweils mit aristotelischen Kategorien zu fassen gesucht. Es
waren eher ungewöhnliche Beispiele – von einem krankmachenden Trinken über das
"Jesus-Essen" der Christen bis zum „Mutter-Essen“ des Säuglings. Ich
habe diese Vorgänge ziemlich drastisch in der deutschen Umgangssprache benannt
– was aber nichts daran ändert, daß es sich mehr oder weniger um Sonderformen
eines Vorgangs handelt, dessen substanzhafte Teilnehmer (Aktanten?) mit
Allgemeinbegriffen wie „Nahrungsmittel“ und „Mensch“ benannt werden können. Wir
haben versucht, die Kategorien „Substanz“ sowie diverse „Akzidenzien“ so
einzuführen, dass deren überlieferte – aristotelische - Bedeutung gewahrt
bleibt. Aber auch den Begriff „Transsubstantiation“, der von mittelalterlichen
Theologen für den Sondervorgang Nummer 2 (beziehungsweise für das Vorspiel zu
ihm) eingeführt worden ist – und der meines Erachtens auch auf den normalen
Vorgang von Nahrungsaufnahme, Verdauung und so weiter angewendet werden kann.
Die
Begriffsordnung, die von Gattungen über Arten zu den Individuen herabsteigt,
kann höchst unterschiedliche, auch extreme Fälle, einordenbar machen, ohne dass
ihre Besonderheiten reduziert werden. Sogar sogenannte „unvorstellbare“
Sachverhalte lassen sich einfügen: ihre Einordnung, Vergleichung und
Unterscheidung entzieht sie einer eventuellen Unsagbarkeit. Es gibt ja nicht
nur die Katastrophen, die in der Zeitung stehen, sondern auch solche, die darin
bestehen, dass eine Ente getötet, weiter behandelt und dann von mir verspeist
wird. Oder soll ich mir einbilden, dies sei eine Ehre für sie? Immerhin wird
sie transsubstantiiert.
Die Spitze der
Philosophie liegt nicht darin, dass man zum Unterschied zwischen Platon und
Aristoteles etwas sagt, und zwar etwas Zutreffendes sagt. Hie und da muß man
auch zu den Dingen dieser Welt etwas sagen – und vielleicht drastisch etwas
sagen, damit man merkt, dass da etwas gesagt wird.
Was ich jetzt
„Drastik“ nenne, hat Gilles Deleuze im Jahr 1967 „Methode der Dramatisierung“
genannt: in den sokratischen Dialogen gebe es eine Zwietracht zwischen der
Hauptfrage nach dem Was und den „minderen“ Fragen nach dem Wer und Wie, nach dem
Wo und Wann.[1]
Das Was entspricht der Wesenheit, das Wer dem individuellen Wesen, das Wie und
Wo und Wann einigen Akzidentien. Das heißt: es ist hiermit das ontologische
Spektrum ausgebreitet, das aus zwei Substanz-Aspekten sowie vielen Akzidenzien
besteht, zu denen auch noch ein paar drastischere Seinsmodalitäten wie
Entstehung und Vernichtung gehören (siehe Met. IV, 1003b 5ff.). Deleuze
plädiert für die Hegemonie der Akzidenzien (und ich habe dieses Plädoyer für
die Politikwissenschaft übernommen (Aristoteles übernimmt es für das Drama in
der Tragödie)).
Neuerlich
kommt Aristoteles auf die Erklärung von der mannigfachen Aussagung des Seienden
(1003a 33) zurück, bezieht auch den Fachausdruck „Kategorien“ ein – und doch
nimmt er eine sprachliche Modifizierung vor, indem er statt des Partizips jetzt
den Infinitiv „sein“ einsetzt und den offensichtlich sogar in den Plural setzt
(was nur an dem kath’auta erkennbar ist). Mit dem Übergang vom Partizip
zum Infinitiv praktiziert Aristoteles so etwas Ähnliches wie das, was er dann
in den Beispielen mit verschiedenen Wortformen vorführt. Der Wechsel vom
„Seienden“ zum „Sein“ (zunächst zu „den Sein“) entspricht sprachlich immerhin
dem von Heidegger geforderten oder betriebenen Übergang. Bei Aristoteles wird
er hier wohl nicht mit seinsgeschichtlichem Pathos aufgeladen. Doch mit der
Pluralisierung setzt Aristoteles - nur im ersten Halbsatz der Periode – einen
eigenen Akzent, indem er das, was er sagen will, selber sprachlich performiert
(allerdings wird der Plural von sächlichen Subjekten im Griechischen nicht so
ernst genommen, dass auch das Prädikat pluralisiert würde: es sind Vielheiten,
die mehr als Einheiten aufgefaßt werden (siehe 1015b 35 ff.)).
Mit dem kath’auta
schließt Aristoteles an die kath’auto- Aussageweise an, die er oben
von den akzidenziellen Aussageweisen unterschieden hat. Hier aber subsumiert er
darunter das Wesen und ungefähr sieben Akzidenzien (von denen zwei mit
Infinitiven benannt werden): schaltet er damit alle Kategorien gleich, hebt er
die Akzidenzien in den Rang von Substanzen? Ein selbes Sein wird all
diesen Seinsmodalitäten zugesprochen. Und als Beispiel dafür bringt er die
Bedeutungsgleichheit zwischen verschiedenen Ausdrucksweisen, die sich darin
unterscheiden, dass die einen mit dem – infiniten – Partizip Präsens und die
anderen mit der finiten dritten Person Singular operieren.
Flexibilität
der Ontologie.
Walter Seitter
--
Sitzung vom 30. April 2015
[1]
Siehe Walter Seitter: Die
Unvermeidlichkeit der Akzidentien, in: ders.: Menschenfassungen: 169ff.
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